Der Hauptgrund, warum die Wahlen zum US-Präsidentenamt etwas so Besonderes sind, ist nicht, dass hier zusätzlich zur nationalen Symbolfigur und zum Repräsentanten von 318 Millionen Menschen der leader of the free world gewählt wird. Was soll das überhaupt heißen: „Führer der freien Welt“? Wieso Leader, und nicht Herrscher? Wer gehört zu dieser freien Welt und wer nicht? Und wenn wir dazu gehören, müssen wir dem Führer dann folgen? Und wenn wir das müssen, sind wir dann noch frei?
Der wirklich entscheidende Grund für den Ausnahmestatus der US-Wahl ist ein Fußball. Um genauer zu sein: DER Fußball. The nuclear football, so nennt man nämlich die Tasche, dessen Inhalt es dem Menschen, der alle vier Jahre erkoren wird, einen Atomschlag zu autorisieren. Sozusagen der rote Knopf. Denn die Amerikaner entscheiden mit ihren Kreuzen (oder digital) darüber, wer Commander-in-Chief nicht nur über die herkömmlichen Streitkräfte, sondern auch über eine recht große Anzahl von Atomsprengköpfen wird. Wer den Zugang zu den nukularen Sprengköpfen bekommt. Wer eben am roten Knopf sitzt und wer innerhalb von vier Minuten darüber entscheiden darf, ihn als Antwort auf einen feindlichen Erstschlag zu drücken. Es ist nicht nur eine Entscheidung über Leben und Tod – das ist sie bei allen politischen Herrschern –, sondern eine über das menschliche Leben auf diesem Planeten.
Und diese Frage hat auch für viele Amerikaner Vorrang vor all den weiteren Themen, über die in großem Maße zu bestimmen sie einer Person die Macht geben. Sie kommt noch vor der Frage nach offenen Grenzen, Außenhandelstarifen oder Steuersenkungen für die Mittelschicht.
Es klingt übertrieben zu sagen: Die Amerikaner geben einer Person die Macht über den Fortbestand der gesamte menschliche Existenz auf Erden in die Hand. Ist aber so.
Der libertäre Publizist Richard Epstein sagt daher zurecht: „Die Knopf-Frage ist wichtiger als die Frage, wer über den Mindestlohn entscheidet.“
Nun sehen sich die Amerikaner im Herbst des Jahres 2016 offenbar vor die Wahl gestellt, diese Macht einem Verrückten oder einer Kriminellen anheimgeben. Wenn damit Thomas Hobbes‘ staatstheoretischer Entwurf eines Souveräns, dem die Menschen per Gesellschaftsvertrag ihre Fähigkeit, sich selbst zu schützen, überantworten – im Vertrauen darauf, dass dieser Leviathan das in ihn gesetzte Vertrauen heraus nicht gegen sie missbrauchen wird – nicht endgültig ad absurdum geführt worden ist, dann weiß ich es auch nicht mehr. Vielleicht ist ja für viele Menschen die Tatsache, dass wir bislang nur am Rande eines totalen atomaren Weltkriegs standen, und nicht schon einen Schritt weiter, einfach beruhigend genug – vielleicht fehlt aber auch nur das Vorstellungsvermögen für eine Alternative …
Die große Betonung der Frage nach dem Charakter Donald Trumps zeigt, welchen Stellenwert die Knopf-Frage tatsächlich hat. Seine angenommene Emotionalität, seine Unbeherrschtheit, seine Unkontrollierbarkeit hat in dieser Hinsicht etwas Beängstigendes: Diesem Mann würde man vielleicht ein gebrauchtes Flugzeug abkaufen, aber würde man ihm zutrauen, in der Stunde der Bewährung kühlen Kopf zu bewahren?
Daher sind auch seine Äußerungen über Frauen, ob über einzelne oder über Gruppen von ihnen, die für einen Politiker normalerweise das Karriereende bedeuten, dem Wahlvolk, vor allem aber den Medien so wichtig. Neben der Tatsache, dass sich vieles, was Donald Trump über seine Gegnerinnen sagt, einfach als sexistisch deuten lässt, weil es eben gegen eine Frau geht, und der Tatsache, dass Sexismus-Vorwürfe für die Medien ein Direktzug ins Land der höheren Auflage, Quote oder Klickzahlrate sind, auf den sie nicht anders können als aufzuspringen, ist hier die Verbindung von Bedeutung, die Frauenfeindlichkeit mit dem Nuklearen Fußball, dem roten Knopf hat. Selbst wenn sie sich nur in der Sprache äußern sollte, verbinden wir Frauenfeindlichkeit doch unbewusst mit Unbeherrschtheit. Dass viele Männer beizeiten Schlechtes über viele Frauen oder das gesamte weibliche Geschlecht denken, dürfte genauso unbestritten sein, wie es andersrum der Fall ist. Wenn ein Mann sich aber dementsprechend äußert, beweist er damit, dass er sich nicht unter Kontrolle hat – seine Zunge nicht, vielleicht auch nicht seine Hand und in Folge weitere Körperteile auch nicht.
Was aber, wenn der Wesenszug, den man bei diesem Mann beobachtet, ein universeller ist? Wenn seine leichte Erregbarkeit auch in anderen Situationen zu Unglück führen muss? Was, wenn die Äußerung seiner Frauenfeindlichkeit einfach nur eine allgemeine Unbeherrschtheit „vor dem Feind“ bezeichnet? Er also auch angesichts größerer Bedrohungen, als sie eine einzelne Frau darstellt, nicht den Mund geschlossen und die Finger still halten kann?
Ungeachtet der Frage, ob Donald Trumps Äußerungen tatsächlich sexistisch waren, ob sein Verhalten Frauen gegenüber auf eine generelle Feindlichkeit dem anderen Geschlecht gegenüber schließen lässt, können wir aus der großen Beachtung, die die Öffentlichkeit diesem Charakterzug spendet, schließen, dass sie über die Vorstellung, ein solch aufbrausender Hitzkopf könne über den Atomkrieg entscheiden, besorgt sind.
Dass man sich meines Wissens vor und während der Amtszeit Bill Clintons allerdings ähnliche Sorgen eher nicht gemacht hat, lässt mich an der Unvoreingenommenheit der öffentlichen Sorgenmacher zweifeln. Aber zumindest war der Lewinsky-Skandal, dessen Investigation immerhin das Vierfache der Kosten ausgemacht hat, die für die 9/11-Kommission aufgewendet wurden, ein Zeichen dafür, dass den Amerikanern die sexuellen Eskapaden eines Mannes dann von besonderer Bedeutung sind, wenn dieser Mann zudem lebenswichtige Entscheidungen für ein ganzes Volk treffen muss.
Nun haben wir aber in der Person Hillary Clintons ganz offensichtlich einen Fall krimineller Energie, der es dem amerikanischen Wähler nicht so einfach macht, sich gegen Trumps cholerischen Charakter und für den kühlen Kopf einer Frau zu entscheiden. Ihre Lügen, ihre Vertuschungen, ihr Verhalten gegenüber den Vergewaltigungsopfern ihres Mannes, aber auch die Verbindungen ihrer Partei und ihrer und ihres Mannes Foundation zu menschenverachtenden Regimen, großen Korporationen, Geldgebern und den Medien dürften eigentlich genug Gründe für Wählerin und Wähler sein, ihre Abneigung gegen Trump noch einmal zu überdenken.
Auch die Tatsache, dass sich Hillary Clinton wiederholt dafür ausgesprochen hat, eine No-Fly Zone über Syrien zu installieren, und dass dies, nach Aussage des US-Generalstabschefs Joseph Dunford einen Krieg mit Russland bedeuten würde, kann die Wählenden nicht unbedingt ruhiger schlafen lassen. Oder dass sie mit Assad das machen möchte, was schon mit Saddam Hussein und Ghaddafi so gut geklappt hat: den Schurken beseitigen, um ein Machtvakuum herzustellen, das die Region für Jahrzehnte in Bürgerkrieg, Chaos und Terror versinken lässt.
Das US-Wahlvolk sieht sich bei der Frage, wem man an den roten Knopf lässt, dessen unsachgemäße Bedienung die ganze Welt zerstören kann, der Wahl zwischen einem Hitzkopf und einer Strategin gegenüber. Zwischen einem Mann, der sich vom Moment beeinflussen lässt, und einer Frau, die alles genau berechnet. Die nicht nur kalten Kopfes, sondern auch kaltblütig ist. Es ist die Entscheidung zwischen einem Verrückten und einer Kriminellen.
Um genauer zu sein: zwischen einem Mann, den man aufgrund seiner Äußerungen als verrückt ansieht, und einer Kriminellen. Während es bezüglich Hillary Clintons Vergangenheit und Gegenwart keine größeren Zweifel mehr gibt, ist es meines Erachtens bei Trumps Charakter fraglich, ob er tatsächlich so impulsiv ist, wie er es bei seinen Reden an den Tag gelegt hat. Im Grunde fällt es mir schwer, mir einen erfolgreichen Geschäftsmann vorzustellen, der sein unbeherrschtes Wesen habituell über sein Kalkül, seine Strategie und über sein Erfolgsstreben stellt – ebenso schwer, wie es mir fällt, mir einen Bauunternehmer vorzustellen, der Rassismus und Sexismus im täglichen Geschäftsleben der USA tatsächlich in größerem Stile auslebt.
Aber während das immerhin alles der Fall sein mag, fällt doch die Frage, ob man – wenn man sich schon entscheiden muss – nicht auch und vor allem in der Knopf-Frage sich für das geringere Übel entscheiden sollte, stark ins Gewicht. Im allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Sinne gilt ja diese Devise seit langem: Wenn man sich schon für jemanden entscheiden müsse, der darüber bestimmt, wie viel Steuern erhoben und wofür die Steuergelder verwendet werden, dann doch bitte für das geringere Übel. Eine gute Entscheidung gebe es hier nicht.
Und so schön die Vorstellung hier auch wäre, es gäbe bei der Atomkriegfrage eine gute Entscheidung: einen weisen, über jegliche egoistische Regung erhabenen, unkorrumpierbaren Meister, gandalfstyle, (oder eine Meisterin), ist sie auch hier nur eine schreckliche Illusion. Sie ist so schrecklich, weil sie die Unerhörtheit der Tatsache, dass man einem einzelnen Menschen so viel Macht über so viele andere Menschen gibt, verdeckt und den Hobbes’schen Leviathan am Leben erhält.
Was aber wäre nun das geringere der beiden Übel? Trump oder Clinton? Ein verrückter Businessmann oder eine korrupte Politikerin? Das wird das Wahlvolk der USA zu entscheiden haben. Nur so viel: Wenn Donald Trump tatsächlich all das ist, was die Medien ihm nachsagen: ein homophober, sexistischer, rassistischer Frauenfeind, der noch dazu cholerisch und notorisch unbeherrscht ist – was die Knopffrage anbelangt (und nur die, freilich), hielte ich diese Untugenden tatsächlich für das geringere Übel. Verglichen mit einer Frau, die, falls es stimmt, was dubiose Youtube-Videos ihr nachsagen, von fremden Mächten gesteuert wird, die am Krieg nur verdienen können, wären Trumps charakterliche Defizite weniger gefährlich. Denn es ist zum Glück schwer bis unmöglich, aus reinem Machismo heraus Atombomben nur auf den weiblichen Teil der Bevölkerung zu werfen, und das gleiche gilt für die Schwulenszene oder die illegalen Einwanderer. All diese Gruppen kann zum Glück selbst Trump nicht mit einer Atomrakete beseitigen, und Mexiko ist einfach zu nah für ein solches Unternehmen.
Ob aber Hillary Clinton, die selbst im Vergleich zu George W. Bush als Kriegstreiberin gilt, die von Saudi-Arabien Millionen von Dollar annimmt und die schon 2008 versprochen hat, den erklärten Feind der Saudis, den Iran, anzugreifen, trotz ihrer Unterstützung für die Belange der Frauen, der schwarzen oder der LGBTQ-Community angesichts der Versuchung, die die absolute Macht in der Knopffrage darstellt, unkorrumpiert bleiben wird, wage ich zu bezweifeln.