Unsere Zeit wird man einst das Jahrhundert der intellektuellen Organisation des politischen Hasses nennen, schrieb der französische Philosoph Julien Benda im Jahr 1927 weitsichtig über das 20. Jahrhundert.
Im frühen 21. Jahrhundert stehen wir vor einem ähnlichen Phänomen, wenn auch die neuen Ideologien noch nicht ganz unter sich ausgemacht haben, welche der vielen menschlichen Leidenschaften sie auf welche Weise für ihre Zwecke beanspruchen wollen.
Ideologische Systeme wie der Nationalismus, der Sozialismus, der Monarchismus oder der Republikanismus sind nämlich auf unsere Leidenschaften angewiesen, um erfolgreich sein zu können. Leidenschaften zu besitzen, oder besser: von ihnen besessen zu werden, ist Bestandteil unserer condition humaine. Die privaten Leidenschaften wie Liebe, Hass, Stolz, Furcht oder Ekel können aber verwandelt werden in öffentliche, „politische“ Leidenschaften. Diese politischen Leidenschaften befallen sozusagen die anderen Passionen in uns und verändern sie, wodurch sie einen nie erreichten Grad an Dominanz erreichen. Die Politik, aber auch die Medien, kultivieren und instrumentalisieren diese Leidenschaften für ihre ideologischen Zwecke. Die Aufgabe von Politik und Medien, abstrakter gesprochen: die Aufgabe des ideologischen Systems, das zum Überleben und Gedeihen unsere Leidenschaften benötigt, besteht darin, diese eigene politische Leidenschaft als Agentin des Guten auf Erden zu definieren und ihre jeweiligen Gegner als Geist des Bösen.
Die Diskussion um die Teilnehmerzahl der Anti-Corona-Demo in Berlin spiegelt eben diese Instrumentalisierung der Leidenschaften wider. Wer mehr Menschen auf die Straße bringt, ergötzt sich an der Verherrlichung der jeweils eigenen Leidenschaft, indem er sie im Ganzen sublimiert wiedererkennt – in der Masse als in einem religiös verehrten Ganzen, als dessen Glied er sich fühlt und dem er „Züge einer mystischen Persönlichkeit verleiht“ (Benda). Mit ihr vereint werden wir Teil einer „kompakten Leidenschaftsmasse, in der sich ein jeder eng mit der Unzahl der anderen verbunden fühlt.“ Daher auch die Heuchelei und Doppelmoral schonungslos offen legende Einteilung in gute Demos und schlechte Demos. Vor dem Virus sind zwar alle Massen gleich – doch es gibt eben Massen, die sind gleicher. Die Frage danach, wie viele einzelne Glieder dieser, „unserer“ Masse angehören, ist nichts anderes als die nach dem einzig wahren Gott, neben dem alle anderen Götzen sind.
Intellektuellen sollte eine solche Diskussion eigentlich unwürdig erscheinen, da sie nichts anderem als dem Herdendenken entspringt und ihm Vorschub leistet. Es ist eine Diskussion, die – wie Prozentangaben von Wissenschafltern, die „meine Theorie“ vertreten, und die Behauptung von „Einigkeit in der Forschung“ – keinerlei Aussagekraft über die Plausibilität eines Protestes oder einer Forderung oder über den Wahrheitsgehalt einer Theorie hat. „Das Recht der Überzahl anerkannt von Männern, die sich zur Welt des Geisteslebens rechnen: solch ein Anblick bietet sich der heutigen Menschheit“, urteilte Benda bereits 1927 höhnisch.
Doch nicht nur die Diskussion um die Zahlen, sondern auch die Beschimpfung, Diffamierung, Ausgrenzung und Mundtotmachung Andersdenkender – ihrerseits untrügliche Anzeichen des niedrigen Geistesstandes unserer Kultur – sollten eines Intellektuellen nicht würdig sein.
Aber das bringt der Geist der Demokratie natürlich mit sich: Wer Veränderungen in seine Richtung lenken will, ist auf die Masse angewiesen, und sei sie auch nur eine behauptete. Wer auf Masse angewiesen ist, ist zugleich zwangsweise auf ihre Leidenschaften angewiesen. Und da unsere stärksten Leidenschaften die der Liebe und des Hasses sind, eignen sie sich so gut zur politischen Instrumentalisierung. Hinzu kommen, seit 2020 offenbar stärker als je zuvor, die Angst und der Ekel. Sie haben den traditionellen Klassenhass abgelöst – oder besser: die Klassengrenzen verlaufen nicht mehr in sozialen, sondern entlang noch vager, noch undefinierter ideologischer Grenzlinien.
Wir erleben ein weiteres Mal, wie die Organisation von Angst, Ekel und Hass der Entfremdung und Spaltung unserer Gesellschaft Vorschub leistet – befeuert durch die üblichen, sich selber angesichts der Lauterkeit ihrer Absichten heilig sprechenden Verdächtigen. Es ist dies kein nationales Ressentiment mehr, sondern eher ein moralistisches, der wieder einmal mit dem Anspruch auftritt, auf Wissenschaft zu beruhen, das Resultat „strikter Tatsachenbeobachtung zu sein. „Man weiß, schrieb Benda, „welche nie dagewesene Selbstsicherheit, Rigidität und Unmenschlichkeit dieser Anspruch heute den Leidenschaften verleiht.“
Die Ideologien, und das ist der Unterschied zu der Zeit, in der Julien Benda sein Buch „Verrat der Intellektuellen“ schrieb, sind noch diffus und nicht eindeutig einer einzelnen Leidenschaft, einem einzigen Ziel oder gar „Führer“, nicht mal einer Partei zugeordnet. Doch es deutlich, dass diese Zuordnung begonnen hat, und dass die Mischung aus Angst, Gruppendenken, kognitiver Dissonanz, repressiver Intoleranz, Selbstüberhöhung und Diskursverweigerung eine höchst gefährliche ist – bedarf es doch nur noch der Lunte „ideologischer Apparate, die sich selbst im Namen der Wissenschaft jeweils den unübertrefflichen Wert ihres Handelns und dessen historische Notwendigkeit bescheinigen“ (Benda) sowie des Zündstoffs einer intellektuellen Organisation der politischen Angst – die nichts anderes ist als die Organisation politischer Massen zur Erlangung von Macht – um sie zum Explodieren zu bringen.
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