Deutschland im Jahr 2006. Wisst ihr noch? Die Breitblättrige Stendelwurz ist Orchidee des Jahres, der 1. FFC Turbine Potsdam wird DFB-Pokalsieger im Frauenfußball und die Deutsche Oper in Berlin sagt die Neuenfels-Inszenierung von Mozarts „Idomeneo“ in letzter Minute ab. Der Spiegel schrieb damals: Eine anonyme Anruferin hatte die Bundespolizei darauf aufmerksam gemacht, dass die Deutsche Oper „Idomeneo“ wieder spielen wolle. Das sei doch die Inszenierung, an deren Ende der abgeschlagene, blutverschmierte Kopf des Propheten Mohammed gezeigt werde. Könnten sich da nicht Islamisten provoziert fühlen? Müsse man nicht mit Anschlägen rechnen? Die Sicherheitsbehörden kennen die Inszenierung nicht. Sie erstellen eine Gefährdungsanalyse. Anzeichen für Anschläge auf die Oper lägen zwar konkret nicht vor, aber ausschließen könne man die natürlich nicht.
Intendantin und Regisseur fragen sich daraufhin: Kann man den Schluss mit dem abgeschlagenen Kopf von Mohammed ändern? Kann man nicht, sagen beide. Ganz oder gar nicht. Die Oper wird abgesetzt. Und das im Mozartjahr. Das Theater fleht die Journalisten an: Bitte nicht schreiben, warum wir die Oper absetzen. Das gefährdet uns alle. Es wird aber geschrieben, und der Skandal ist groß: vorauseilender Gehorsam, Feigheit, unerträglich, unerhört. Die Kanzlerin, der Innenminister, die Opposition melden sich zu Wort: die ganz große Koalition des Abscheus. Alle sind sich einig. die Freiheit der Kunst steht auf dem Spiel.
Ein Islamist hat sich allerdings damals nicht gemeldet. Es ist auch nicht nur Mohammeds Kopf, der da rollte, auch Buddha, Poseidon und Jesus werden geköpft. Christen und Buddhisten haben auch nicht protestiert. Das Stück bleibt trotzdem abgesetzt.
Das war im Jahr 2006. Ich persönlich erinnere mich gut an den Fall, auch wenn ich mit 29 natürlich noch zu Jung bin, den bewusst miterlebt zu haben. Aber ich erinnere mich noch daran, wie damals eine ältere Kollegin von mir, eine Alt-68erin im besten Sinne des Wortes, sich lautstark über diesen Fall empörte. Man könne doch nicht aus Feigheit die eigene Lebensweise aufgeben, wo kämen wir da hin? Und heute? Die besten Linken, die echten, die, die es ernst meinten und sich nicht haben korrumpieren lassen, scheinen mittlerweile ausgestorben zu sein. Die anderen: in ihren Altbau-Appartments zu wohlstandverwahrlosten zeitgeistfrommen Opportunisten geworden.
Als die Taliban die Buddha-Statuen von Bamiyan zerstörten, war der Aufschrei hierzulande groß, die Älteren unter euch erinnern sich vielleicht noch daran. Auch bei der Mozart-Inszenierung gab es noch eine Einigkeit, dass wir uns doch nicht durch die eigene Schere im Kopf unsere hart errungene Freiheit selber kaputt machen sollten.
Aber heute? Von den Altlinken, von den 68ern, und auch von der Neuen Linken, selbst von den Mainstreamliberalen hört man kaum ein Wort über die Einengung der Kunstfreiheit, über Repressionen und Mundtotmachung. Nein, einige verteidigen es sogar, wenn Künstler auf Druck von außen oder auch nur eine angenommene Gefährdungslage hin ausgeladen werden aus Festivals, Lesungen, wenn ihre Auftritte abgesagt werden, ihre Verträge gekündigt oder wenn Buchhändler ihre Werke aus dem Sortiment nehmen.
Sie verteidigen es als Form der Kritik – man habe ja ein Recht, zu sagen, was man will, aber das heißt ja nicht, dass man vor Kritik gefeit wäre … und ein lautstarker Protest oder auch die Androhung von Gewalt seien eben nur eine besonders deutliche Form von sachlicher Kritik.
In einer Zeit, in der wirklich sachliche Kritik an den Zuständen schnell Hetze und Hassrede ist, ist es für einige wiederum einfach nur sachliche Kritik, wenn sie jemandem den Auftritt unmöglich machen oder gleich seine ganze Karriere zerstören.
Die Cancel Culture.
Uns ist seit langem der Maßstab dafür verloren gegangen, wie man kritisch und in der der Sache hart, mitunter auch polemisch, aber niemals unter der Gürtellinie und tatsächlich verleumderisch, unfair, persönlich beleidigend wird. Ein Kriterium für den produktiven Umgang miteinander.
Lisa Eckhart, Alice Schwarzer, Dieter Nuhr, Eugen Gomringers Avenidas Gedicht sind da nur die jüngsten Beispiele für diese erlernte Hilflosigkeit. Wir sind auch deswegen unfähig, weil uns die lautstarken, prinzipientreuen und selbstbewussten Linken fehlen, die gegen diesen Ungeist angehen. Mit einigen Ausnahmen, Bernd Stegemann etwa.
Und so ist die hypermoralistische Empörung gegen alles, was irgendwie verdächtig oder störend sein könnte, langsam zum Normalfall geworden – weil sich, außer den üblichen Verdächtigen, keiner mehr wehrt. Und weil deswegen niemand von denen, die angegriffen werden, sich halbwegs sicher und vor dem Moralmob geschützt fühlen können.
Dieser Kunstpuritanismus nimmt langsam totalitäre Züge an.
„Cancel culture“, sagt Milosz Matuschek in seinem neuen Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung, “ist keine Kritik, sie ist Bestrafung. «Cancel culture» ist das Privatstrafrecht der Moral in den Händen einiger weniger, die damit Hochschulen, Kulturveranstalter, Buchverleger oder sonstige Podienanbieter oder Plattformen terrorisieren – letztlich zum Schaden von Künstlern, Publikum und der Freiheit.”
Und sie ist, was den Bereich der Kultur, Literatur und Kunst betrifft, auch ein Anzeichen und ein Katalysator zugleich: Das Gleiche passiert in der Wissenschaft, das Gleiche passiert in der Politik, und es vergiftet nach und nach unsere gesamte Mentalität.
Auch der politische Diskurs ist ja inzwischen hochgradig moralisiert, wie Alexander Grau gesagt hat. Vieles wird häufig im Tonfall hochgeschraubter Moralität behandelt. Sachfragen werden tendenziell ausgeklammert.
Dadurch kann man den Gegner natürlich leicht mit moralisch hochgeschraubten Argumenten mundtot machen.
Wer gegen eine solche geistlose Vereinfachung ist, wer gegen Moralisierung als Waffe ist, gilt dann wiederum als unmoralisch, als Unmensch. Wer die Freiheit derjenigen verteidigt, die gefährlich oder anrüchig genannt werden, ist dann plötzlich genau das selber: gefährlich und anrüchig. Der Voltaire zugeschriebene Satz, ich mag verdammen was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzten, dass du es sagen darfst, ist für diese stumpfsinnige Mischpoke, die heutzutage bei den Linken den Ton angibt, natürlich schon zu hoch.
Aber wohin führt uns das?
Letztendlich werden irgendwann so viele von der Cancel Culture betroffen sein, dass sie selber schon wieder eine Art Mehrheit bilden. Im Grunde sind sie schon diese Mehrheit, weil wir alle von dem Ungeist dieses kulturlosen Pöbels betroffen sind – als Zuschauer, als Leser, als Kunstrezipienten, als Bürger, die in einer vielfältigen, aufregenden und bedeutungsvollen Kultur leben möchten. Die vor allem in einer freien Kultur leben wollen.
Niemand mag Denunzianten. Niemand mag den moralinsaueren Meldemob.
Aber noch wissen wir das nicht – dass wir mehr sind. Wie ein Senator im antiken Rom sagte: Warum lassen wir die Sklaven nicht gelbes Bändchen ums Handgelenk tragen, dann können wir sie besser von den freien Bürgern unterscheiden – und dann ein anderer Senator sagte: „Spinnst du, dann sehen sie doch, wie viele sie sind!“ – so ist es auch heute. Wir würden schnell merken, wie viele gegen den Ungeist der Kulturtaliban sind, und wie wenige da eigentlich so lautstark einen Kurs vorgeben, den keiner als richtig ansieht – aber alle machen mit.
Aber woher kommt das – und was können wir dagegen tun?
Ohne Moral kommen wir nicht aus, Moral ist wichtig für den Menschen, sie reguliert sein Verhalten, wo Instinkte es nicht mehr tun – der Mensch ist ein instinktarmes Tier, ein armer Hirnhund, wie Gottfried Benn sagt: Also ist er auf moralische Regeln angewiesen, um mit anderen zusammenleben zu können. Moral gehört zum Immunsystem einer Gesellschaft.
Aber Moral um ihrer selbst willen wird tyrannisch. Entfesselte, freidrehende, deregulierte Moral ist eine Allergie – eine Überreaktion des Immunsystems. Moral reguliert, aber sie muss selber auch wiederum reguliert werden.
Aber das bislang geschieht zu wenig, aus Ängstlichkeit, aus Bequemlichkeit, schließlich lebt es sich gut im „Moralismus-Wohlfühlbecken“. Zudem ist der Anreiz, bei der Empörungswelle mitzumachen, sehr hoch: Man kann sich vollkommen ohne Aufwand, Differenziertheit oder Recherche als guter Mensch beweisen – wie großartig ist das denn?
Was Milan Kundera über den Kitsch geschrieben hat, gilt auch für die Hypermoral: Man fühlt sich gut, moralisch zu handeln, aber man fühlt sich vor allem dann gut, wenn man sich dabei beobachten kann, wie moralisch man doch handelt.
Zumal sich ein fataler Mechanismus einschleicht, wenn man zu lange einfach nur zusieht und schweigt: Es ergibt sich ein moralisches Dilemma: ich weiß zwar, dass vieles einfach nur eine Zumutung ist, aber da ich geschwiegen habe, bin ich schon darin verstrickt. Für einige ergibt sich als einziger Ausweg aus diesem moralischen Dilemma, wie Hermann Lübbe schreibt, die Wiederherstellung der moralischen Selbstachtung durch Mitmachen: Man beginnt an das zu glauben, dem man bislang opportunistisch lediglich nicht widersprochen hatte. So muss man nicht länger damit zurechtkommen, dass man etwas unterstützt, was man eigentlich für falsch hält.
Und: Moralismus ist ein Machtmittel: Er verschafft Status und mühelose Diskurshoheit. Aber in ihm offenbart sich auch ein totalitärer Geist. Wenn wir sehen, wie gegen einige missliebige Künstler vorgegangen wird, und wie willfährig dem entsprochen oder wie feige darüber geschwiegen wird, dann muss man sagen: Wir haben derzeit keine totalitären Parteien an der Macht, aber die brauchen wir auch nicht. Wir haben den Totalitarismus bereits in uns.
Dass dieses Phänomen quasi-religiöse Eigenschaften aufweist, hat Alexander Grau schon festgestellt: Der Moralismus hat sektenartige Züge angenommen. Seine Sekte zerstört nach und nach wichtige Inmunfunktionen der Gesellschaft. In einem postreligiösen Zeitalter wird die Moral selbst zum Ziel der Geschichte ernannt. Hypermoralismus ist für Grau zu einer neuen Religion, mehr noch aber zu einem globalen politischen Projekt geworden, einer geradezu heilsgeschichtlichen Utopie, die es rechtfertigt, die eigenen Moralvorstellungen mit jakobinischem Eifer durchzusetzen.
Aber wie kommt man da raus?
Zum einen muss man sich bewusst sein: Das wird nicht weggehen. Gegen diesen religionsersatzartigen Charakter der Cancel Culture kommt man nicht an, ohne direkt eine neue Religion zu bieten, die diese Leerstelle in der Seele der Menschen besetzt. In einer postideologischen, postreligiösen Gesellschaft werden die Flammen der Empörungskultur immer wieder aufwallen – wir müssen nur zusehen, dass aus den Buschfeuern kein Flächenbrand wird.
Da ist es schon viel getan, wenn die Sklaven merken, dass sie nicht alleine sind. Dazu gehören vor allem die Künstler, die bedroht, beleidigt oder verleumdet werden. Sie müssen die Solidarität einer freien Gesellschaft spüren, die so selbstbewusst und voller Vertrauen in sich selbst ist, dass sie weiß, dass auch unliebsame Meinungen, auch falsche Meinungen gesagt, auch gefährliche und „zersetzende“ und “entartete” Kunst gezeigt werden kann, ohne dass wir gleich befürchten müssen, vor einer neuen Machtergreifung zu stehen.
Wir müssen sehr viel mehr Vertrauen in das intellektuelle Immunsystem unserer Gesellschaft haben – andererseits schwächen wir es nur, wenn wir es ständig abschotten und vor Erregern bewahren wollen. Herdenimmunität kann hier auch bedeuten: Immunität vor einer zu großen Herdenmentalität.
Aber wir müssen dieses Vertrauen wagen: weil die Alternative schrecklich ist.
Auch das Publikum, die Zuschauer, Kinogänger, Buchleser usw. müssen merken: Wir sind mehr. Das ist doch klar.
Wir sind doch alle in diesem Geist aufgewachsen: Dass Bücherverbrennung ein Übel und nur der Anfang ist.
Wir müssen auch in der Kunst mehr Dissens aushalten und jeden Manichäismus vermeiden und als geistlos anprangern. Der Andersdenkende ist nicht immer gleich der Böse, nur weil ich meine Identität aus nichts anderem mehr zusammensetzen als aus dem glauben, ich sei der Gute.
Es ist natürlich unbequem: Dissens aushalten, aber auch sich zu weigern, überreagieren und Gleiches mit Gleichem vergelten: die missliebigen linken, linksliberalen Künstler bedrohen, ausladen, mundtot machen wollen, aus einem Ressentiment gegen das Ressentiment. Wir können aber einen Ausweg finden, indem wir den Opfern der Cancel Culture Mut machen und ein Zeichen setzen, dass wir sie auffangen. Dass wir nicht zulassen, dass uns mediokre Kulturjakobiner, weil sie mit Vielfalt nicht zurechtkommen, unsere Freiheit und unsere Freude an der Kunst kaputt machen. Der Schriftsteller Sascha Reh etwa sagte aus Protest gegen die Ausladung von Lisa Eckhart vom Harbour Front Literaturfestival seinen Auftritt ab. Chapeau.
Milosz Matuschek schreibt in der NZZ:
“Es genügt, wenn sich Künstler untereinander solidarisieren und das Publikum dabei mithilft. Senken wir doch den Preis für Mut, und erhöhen wir den Preis für Feigheit. Wir alle, die als potenzielles Publikum ja selbst von einem kulturellen Kahlschlag betroffen sind, könnten Künstlern, die sich ihrerseits weigern, bei Veranstaltern aufzutreten, die andere Künstler aus Angst canceln, ein Ausfallhonorar bezahlen. Letztlich ist es eine einfache Machtfrage. Wer hat in der Kultur eigentlich das Sagen? Die Künstler und ihre Schaffensfreiheit oder die administrative Angst mittelmässiger Kulturbürokraten und die Antifa?”
Diese Frage könnt ihr jetzt für euch selbst beantworten: Wo stehe ich in dieser Hinsicht? Und ihr könnt dann auch dementsprechend handeln. Milosz Matuschek und ich haben dafür eine Unterstützungsplattform erstellt: einen Appell und eine Möglichkeit, sich jetzt schon solidarisch mit den zukünftigen Opfern eine wildgewordenen Cancel Culture zu zeigen. Das Ganze läuft über gofundme, dort sammeln wir Gelder für die Unterstützung derer, denen Honorare ausfallen, die Leserschaft verlieren oder die anderweitig durch die lautstarke Dreistigkeit des geistloses Gesindels und die Hasenfüßigkeit der Verantwortlichen, Veranstalter und Verlage geschädigt werden. So kann man deren Verluste ein wenig abmildern und ihre Risikobereitschaft ein wenig belohnen.
Senken wir den Preis für Mut, und erhöhen wir den Preis für Feigheit. Cancel cancel culture.
Ich hoffe, dass ihr im Sinne einer freien und offenen Kultur zahlreich mitmacht. Andernfalls hatte Cassius Recht: “Nicht durch die Schuld der Sterne, lieber Brutus, durch eigne Schuld nur sind wir Schwächlinge.” Gute Nacht und – viel Glück.
Zensur und Kultur in einem Wort sinnvoll zu vereinen, ist so sinnvoll wie Naziideologie und Gleichwertigkeit der Menschen in einem Wort zu vereinen…es ist Ausdruck vollkommener Geisteskrankheit #Menschenrechtsrassegesetze
LikeLike