Widerstand gegen das System [Dorothee Sölle, 1969]

Gaus: Was muß nach Ihrem Verständnis ein Mensch tun, heute in der Bundesrepublik, der den Entwurf Christi leben soll?

Sölle: Ich glaube, dass er in einem gewissen Sinn im Widerstand zu dieser Gesellschaft leben muss, dass er also nicht vollständig angepasst sein kann; dass er nicht gesellschaftskonform leben kann. Das heißt, dass er Kritik üben wird, protestieren wird, verändern wird, an sehr vielen verschiedenen Stellen, je nachdem, wo er gerade ist, wie er zu arbeiten hat.

Ich finde es sehr schwierig, in der Bundesrepublik Deutschland ein Christ zu sein, vielleicht schwerer als in anderen Zeiten.

Gaus: Warum?

Sölle: Weil das eine Gesellschaft ist, deren wesentliche und erklärte Ziele den Menschen eigentlich töten, denn die wesentlichen und erklärten Ziele sind Verdienen, sind Produzieren und Konsumieren. Es ist das, was diese Gesellschaft den Menschen in ihrem Leben ihnen anbietet, ihnen einimpft, ununterbrochen. Jedem sein Eigenheim etwa oder jedem eine passive Rolle im Konsumieren und auch im Produzieren, in der er selbst seine eigene Vorstellung kaum durchsetzen kann. Anpassung, Zurücknahme.

Das ist ein Klima, in dem der christliche Widerstand sich schwer artikuliert, viel schwieriger etwa als in der Zeit des Nationalsozialismus, wo der Gegner viel eindeutiger war, viel deklarierter oder maskenloser, während in unserer Gesellschaft der Gegner, oder das Böse im System, so versteckt ist, dass es sehr vielen Leuten kaum auffällt.

Quelle: Zu Protokoll, 13. 7. 1969. Günter Gaus im Gespräch mit Dorothee Sölle

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