An der kurzen Leine

Das freie Seelenleben des Menschen wurde immer schon an seiner Entfaltung gehindert. Die Mittel dazu sind vielfältig und bekannt. Schon beim Kind werden Triebregungen mittels Disziplinierung und Erziehung unterdrückt. Diese Unterdrückung muss das Kind vor sich selbst verbergen und es als Gewissen und Über-Ich umdeuten. Der Mensch entwickelt ein Gefühl von „Pflicht“, die eigentlich nur verinnerlichter Fremdzwang der Kultur und damit zum Selbstzwang geworden ist. Der zivilisierte Mensch gehorcht dem, was ihm gewaltsam eingeimpft wurde, doch er empfindet diesen Gehorsam als Abwehr seines eigenen Immunsystems gegen „Erreger“ von außen, die eigentlich in seinem Inneren liegen.

Doch nicht immer funktioniert diese Zivilisierung reibungslos. Das Gewissen kann starr, hartnäckig und eigensinnig werden. Es entwickelt ein Eigenleben und kann sich zu einer entscheidenden Kraft entwickeln Das Gewissen wird unabhängig und nimmt keine Befehle mehr an – es schützt sich gegen äußere Einflüsse – Gebote, Verbote, Moralisieung, Verordnung, Manipulation.

Dieser Mensch geht noch immer an einer Leine, aber seine Leine ist recht lang. Um seine Leine und ihn selbst kürzer zu halten, muss der Befehl nicht über die Seele, sondern durch den Körper kommen. Auch der Körper muss verfügbar gemacht werden. Diejenigen, die dem Körper befehlen und ihn kontrollieren können, können den Menschen an der kurzen Leine halten und so den Widerstand seines Gewissens, seiner Seele umgehen.

Der Körper steht […] unmittelbar im Feld des Politischen; die Machtverhältnisse legen ihre Hand auf ihn; sie umkleiden ihn, markieren ihn, dressieren ihn, martern ihn, zwingen ihn zu Arbeiten, verpflichten ihn zu Zeremonien, verlangen von ihm Zeichen.

Michel Foucault

Die Methoden, den Körper zu züchtigen und zu disziplinieren, sind vielfältig. Eine der offensichtlichen ist die Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Michel Foucault hat in „Überwachen und Strafen“ die Auswirkungen dieser Methoden auf die Mentalität der Gesellschaft am Beispiel des Gefängnisses verdeutlicht. Das Gefängnissystem kann dabei selber als eine Fortsetzung und Steigerung all der Techniken angesehen werden, die dem Menschen ein bestimmtes Verhalten aufzwingen sollen.

Das Gefängnis setzt an den ihm Anvertrauten eine Arbeit fort, die anderswo begonnen worden ist und von der gesamten Gesellschaft mit unzähligen Disziplinarmechanismen an jedem Einzelnen fortgeführt wird.

Michel Foucault

Wenn man all diese Techniken und Institutionen zusammennimmt, ergibt sich ein Netz aus Züchtigungsregel, das den Einzelnen umspannent. Um dieses Netz zu strukturieren, bildet sich eine Hierarchie von spezialisierten Autoritäten heraus, die mittels festgelegter Regeln die „Delinquenten“ einordnen und bestrafen.

Foucault stellt heraus, dass in der Folge die Norm zum Kriterium für die Bestrafung wurde. Was unnormal ist, muss durch Strafe normalisiert werden. Über die Normeinhaltung wachen Ärzte (Gesundheitsämter), Professoren (Experten), Lehrer (und heute oft ,öffentliche Intellektuelle‘) und Sozialarbeiter – sie sind die Normalitätsrichter in einem Kerkersystem, das zur Uniformität drängt.

Permanent wird überprüft, wie sich der Bürger zur Norm verhält. Das Gefängnis wird dadurch ins Außen verlagert; seine disziplinierenden Machteffekte haben sich auf die Gesellschaft erweitert. Die Gesellschaft wird so zum Open Air Gefängnis, das mittels Überwachung, Sanktionierung und Normierung des Individuums mittels aller zur Verfügung stehender Disziplinartechniken einen riesigen Komplex aus Macht und Wissen entstehen lässt.

Gilles Deleuze sprach in diesem Zusammenhang von der Kontrollgesellschaft, in der Macht weder von Individuen noch von Institutionen ausgeübt wird, sondern Teil des Systems ist.

Deleuze hat damit 1990 die von Michel Foucault auf die europäische Gesellschaften des 18. und 19. Jahrhunderts bezogene „Disziplinargesellschaft“ auf die modernen Gesellschaften hin zum Prinzip der Kontrollgesellschaften erweitert, in denen Kontrolle automatisch ausgeübt wird. Auf diesem Automatismus beruht die Effizienz der Kontrollgesellschaft.

Da wir uns in einer allgemeinen Krise aller Einschließungsmilieus, Gefängnis, Krankenhaus, Fabrik, Schule, Familie befinden, sind Kontrollgesellschaften dabei, die Disziplinargesellschaften abzulösen.

Man braucht keine Science-Fiction, um sich einen Kontrollmechanismus vorzustellen, der in jedem Moment die Position eines Elements in einem offenen Milieu angibt, Tier in einem Reservat, Mensch in einem Unternehmen (elektronisches Halsband). Félix Guattari malte sich eine Stadt aus, in der jeder seine Wohnung, seine Straße, sein Viertel dank seiner elektronischen (dividuellen) Karte verlassen kann, durch die diese oder jene Schranke sich öffnet; aber die Karte könnte auch an einem bestimmten Tag oder für bestimmte Stunden ungültig sein; was zählt, ist nicht die Barriere, sondern der Computer, der die – erlaubte oder unerlaubte – Position jedes einzelnen erfaßt und eine universelle Modulation durchführt.

Gilles Deleuze

Deleuze hat diese Kontrollprozesse vor allem auf den Kapitalismus bezogen. Und tatsächlich wurden uns in den letzten Jahrzehnten Produkte angeboten, mit denen wir uns zu selbstoptimierten, dauerüberwachten und durch Algorithmen gesteuerten Freiluftinsassen einer Kontrollgesellschaft machen konnten, denen nur die Illusion der persönlichen Freiheit blieb.

Seit dem letzten Jahr aber hat der Staat seine alte, überkommen gewähnte Rolle als Einschließer wieder mit voller Leidenschaft angenommen. Tracing Apps, Kontaktverfolgung, Selbstisolation, Quarantäne, Reisebeschränkungen, auch die Massentests und Impfungen werden benutzt, um das Verhalten des Menschen „zum Schutz des Gesundheitssystems“ zu disziplinieren und kontrollieren. Nun sind es die Ministerpräsidenten der Länder, die den Bewegungsradius in Corona-Hotspots ab einem Inzidenzwert von 200 auf 15 Kilometer beschränken wollen.

Erstaunlich ist die affirmative Haltung, mit der die neue Kontrollmacht angenommen wird; Intellektuelle zeigen sich unbesorgt ob der Langzeitfolgen, die derart gravierende Grundrechtseingriffe und Überwachungstechnologien für die Mentalität der Gesellschaft haben könnten, Bürger und Medien scheinen sich eine Alternative zum ewiggestrigen Überwachen und Strafen gar nicht erst vorstellen zu können.

Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. 1993.

Gilles Deleuze: Unterhandlungen 1972–1990, darin: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. Frankfurt a. M. 1993.

8 Kommentare

  1. Wie immer, eine Inspiration! Vielen herzlichen Dank! Seelennahrung Liebe Grüße Christine Donhauser

    > Gesendet: Freitag, 01. Januar 2021 um 12:20 Uhr

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  2. Du weißt aber auch aus eigener Erfahrung, daß sich die freie Entfaltung des Seelenlebens durch äußeren Druck nur so lange beeinträchtigen läßt, wie der Zu-Unterdrückende, diesen äußeren Druck in inneren Druck umsetzt.

    Konkretes Beispiel: Wir opponieren nun bald seit einem Jahr gegen den stetig steigenden äußeren Druck und haben Unmengen an Aufmerksamkeit und Energie aufgewendet, um das Maß unserer seelischen Entfaltung gegen ihn zu verteidigen.
    Aber haben wir in dieser Zeit auch innere Grade der Entfaltung, der Freiheit, hinzugewonnen?

    Würden wir uns von der Angstspirale und dieser ganzen Propaganda der Repression einmal für ein paar Tage gemeinsam konsequent entkoppeln, hätten wir, so meine Prognose, Zugewinne zu verzeichnen, die weit über alles bislang an Entfaltung Erfahrene hinausgehen würden.

    Interessiert sich nur keiner für, irgendein lieb gewonnener Status Quo des inneren Wohlfühlens soll erhalten bleiben, daß man die Repression auch als Wachstumskatalysator einsetzen könnte, darauf kommt kaum einer – geschweige denn, daß sich jemand wirklich auf diesen Katalysator einlassen würde (selbst ich nutze ihn im Verhältnis zu der anderweitig sinnlos verplemperten Zeit/Aufmerksamkeit eher nur spärlich…)

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  3. „Das freie Seelenleben des Menschen wurde immer schon an seiner Entfaltung gehindert.“ Welche böse Macht bzw. welcher böse Mensch behindert denn schon immer das freie Seelenleben des Menschen? Der Vater, der Partner, der Chef, der Polizist? Und wie sieht ein ungehindertes „freies Seelenleben des Menschen“ aus. Wie das eines Narzissten oder gar wie das eines Soziopathen, der kein Gewissen kennt?
    „Der zivilisierte Mensch gehorcht dem, was ihm gewaltsam eingeimpft wurde.“
    Soll das bedeuten, das die wahre Freiheit dort beginnt, wo das Zivilisierte endet, im Dschungel? Dort, wo der Mensch ungehindert des Menschen Wolf sein kann?
    „Ärzte, Professoren, Lehrer und Sozialarbeiter – sie sind die Normalitätsrichter in einem Kerkersystem, das zur Uniformität drängt.“
    Wissen Sie eigentlich, wovon Sie reden? Wissen Sie, was ein tatsächliches „Kerkersystem“ ist?
    Das ist alles ein Geschwurbel, wie ich es von Ihnen nicht erwartet hätte.

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  4. Ich bin Jahrgang 1969, 1998 machte ich eine erste, für mich seinerzeit unvorstellbar tiefe Entfaltungserfahrung. – Wenn ich eines beklagen sollte, dann wohl allenfalls meine Unfähigkeit, meine Trägheit, mein Hang zur Prokrastination. – Wie Entfaltung funktioniert, wurde seit tausenden von Jahren in reichlich vielen Sprachen dieser Welt beschrieben, Wege, Lehren und Lehrer der Entfaltung gibt es heute selbst bei uns im Westen, in der ’spirituellen 3. Welt‘ zuhauf. – Und sogar heute, in Zeiten der aufkommenden Zensur steht uns weiterhin alles Menschheitswissen frei zur Verfügung, einzig der Zugang zu Räumen, in denen wir Entfaltung mit anderen üben, studieren, einstudieren könnten, ist erstmals beschränkt.

    Und wenn sie sich ehrlich machen würden, dann würden viele von uns erkennen, daß sie, ohne Corona, ohne den neuen, für uns, die wir im Westen aufgewachsen sind, ungewohnten äußeren Druck, weiterhin überhaupt nicht merken würden, auf was für einem niedrigen Entfaltungsniveau sie sich innerlich eingerichtet haben…

    Und selbst jetzt ist der Druck offensichtlich noch immer nicht hoch genug, als daß wir die Notwendigkeit zu erkennen vermögen, wenigstens eine Stunde pro Woche, eine einzige Stunde all dieser vielen vielen Stunden, in denen wir unsere Widerständigkeit gegen den neuen, ungewohnten, äußeren Druck pflegen, gemeinsam ins Lassen, Loslassen, bedingungslose Loslassen und Annehmen des Augenblickes, so wie er sich von sich aus darstellt, nicht wie wir ihn gerne hätten – eine einzige Stunde pro Woche nur gemeinsam in die Entfaltung zu gehen…

    Wir sind ‚lost‘, uns ist einfach nicht zu helfen.

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