Dass es während der Corona-Pandemie verstärkt zu häuslicher Gewalt gekommen sein dürfte, wird schon lange befürchtet. Eine aktuelle Studie von Experten der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) liefert nun Daten, die diese Befürchtung untermauern. So behandelten Spezialisten unerwartet oft schwere Gesichtsverletzungen, berichtet die Deutsche Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (DGMKG). Insbesondere im Zeitraum des ersten Lockdowns 2020 verzeichneten die Experten in Relation zum Gesamtaufkommen mehr als doppelt so viele Fälle wie in den entsprechenden Monaten in den Jahren 2019 und 2018. Oftmals traten schwere Verletzungen der Augenhöhle auf, die einer aufwändigen Rekonstruktion bedurften. Viele der Ereignisse waren im privaten Bereich und unter Alkoholeinfluss geschehen.
Zwar war die Zahl der Patienten 2020 insgesamt deutlich niedriger als in den Vorjahren, die Verteilung von Alter und Geschlecht war aber vergleichbar. Auffällig war, dass sich die Gründe für das Aufsuchen der Notaufnahme verlagert hatten: Während verglichen mit 2019 und 2018 weniger Patienten Hilfe wegen gewöhnlicher Zahnprobleme suchten, war der Anteil derjenigen mit Verletzungen massiv höher. Die Umstände hatten sich geändert, nicht die absoluten Zahlen.
„Den Erkenntnissen der aktuellen Studie zufolge hatte die Coronapandemie einen starken Einfluss auf den Anteil der schweren Verletzungen im Gesichtsbereich“, sagt Philippe Korn, Oberarzt der Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie an der MHH und Experte der DGMKG. So lag der Anteil der Patienten mit Gesichtsverletzungen in der Notaufnahme der Hannoveraner Klinik – gemessen am Gesamtaufkommen der Patientenfälle in diesem Bereich – im Untersuchungszeitraum zwischen dem 23. März und dem 19. April 2020 bei mehr als 40 Prozent. In den Jahren 2019 und 2018 waren es im gleichen Zeitabschnitt weniger als 20 Prozent gewesen. Gleichzeitig war die Zahl der notfallmäßig eingelieferten Patienten mit 6,79 im täglichen Schnitt 2020 deutlich geringer als in 2019 (14,96) und 2018 (11,79). Absolut gesehen war also kein Anstieg von Verletzungen zu verzeichnen – relativ gesehen aber sehr wohl.
Eigentlich hatten die Experten von der DGMKG erwartet, dass die Zahl der schweren Gesichtsverletzungen während der Coronapandemie eher sinken würde. Schließlich gab es weniger soziale Kontakte, Veranstaltungen und Arbeitswegen fielen weg, dazu kam ein Verbot vieler Sportarten. Dennoch: Die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen mussten viele schwere Verletzungen der Augenhöhle behandeln, wobei computerassistierte Operationstechniken und patientenspezifische 3D-Implantate für eine maßgeschneiderte Rekonstruktion zum Einsatz kamen.
Klar ist: In der Corona-Pandemie haben sich offensichtlich deutlich weniger Menschen in ein Krankenhaus begeben, vermutlich aus Bedenken wegen des Prozederes und auch aus Angst vor dem Virus selbst. Angesichts dessen bleibt die Frage nach der Dunkelziffer besonders brisant. Es ist natürlich spekulativ, dennoch scheint es kaum völlig abwegig, dass die von den Medizinern aus Hannover verzeichneten Fälle nur die Spitze des Eisbergs gewesen sein könnten.
Quelle:
„Changes in Emergency Patient Presentation to a Maxillofacial Surgery Department During the COVID-19 Pandemic“, Philippe Korn et al.; Journal of Oral and Maxillofacial Surgery, https://doi.org/10.1016/j.joms.2021.05.026
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