„Die tatsächlichen psychosozialen Schäden der Corona-Maßnahmen kennen wir nicht gut genug“, sagte der TV-Moderator Richard David Precht unlängst. Den empirischen Studien misstraue er zutiefst:
Wenn zum Beispiel nach Art und Ausmaß physischer und psychischer Gewalt gefragt wird, denen Kinder in den Familien derzeit ausgesetzt sind, wüsste ich schon ganz gern, ob das in den Jahren vor Corona mit gleicher Akribie erforscht wurde.
Richard David Precht
Er könne sich nicht vorstellen, so Precht in einem anderen Interview, dass Kinder in der Pandemiesituation besonders leiden würden. Schließlich sei er auch mal Kind gewesen.
Kinder stecken so etwas gut weg.
Richard David Precht
Tatsächlich ist das Leiden der Kinder an einer Situation oft schwer zu entdecken, weil es häufig still und versteckt von ihnen getragen wird. Das Deutsche Ärzteblatt hat zu diesem Komplex nun einen erhellenden Artikel veröffentlicht, der die Lage der Kinder und Jugendlichen in verschiedenen Kontexten beleuchtet.
Lange Zeit, so der Autor Falk Osterloh, habe der Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit in der Coronapandemie auf den schwer erkrankten COVID-19-Patienten und den vulnerablen Patientengruppen wie alten und chronisch kranken Menschen gelegen:
Bei Kindern und Jugendlichen gab es fast keine schweren Verläufe. So befanden sie sich lange unterhalb des politischen und gesellschaftlichen Radars.
Falk Osterloh: Coronapandemie: Das stille Leiden der Kinder und Jugendlichen
Was etwa die Auswirkungen der Schulschließungen angeht, hält der Artikel fest:
Die Schulschließungen im ersten Halbjahr 2021 wurden für sie jedoch zu einer großen Stresssituation. Denn Eltern und Geschwister waren für sie in dieser Zeit oft keine Ressource mehr, sondern eine Belastung. Normalerweise erholen sich die Kinder in der Schule von ihrem Zuhause und umgekehrt. Während den Schulschließungen sind beide Erholungsphasen weggefallen.
Falk Osterloh: Coronapandemie: Das stille Leiden der Kinder und Jugendlichen
Zur psychischen Situation
Die erste große Studie zum Befinden von Kindern und Jugendlichen in Deutschland war die COPSY-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, in der Schüler und Eltern zunächst von Mai bis Juni 2020 und danach von Dezember 2020 bis Januar 2021 befragt wurden. Das Ergebnis: Die Lebensqualität und die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen im Verlauf der Pandemie hat sich verschlechtert:
Während bei der ersten Befragung 71 Prozent der Kinder angaben, psychisch belastet zu sein, machten bei der zweiten Befragung 85 Prozent diese Angabe. Fast jedes dritte Kind litt ein knappes Jahr nach Beginn der Pandemie zudem unter psychischen Auffälligkeiten. Betroffen sind dabei vor allem Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren Verhältnissen oder mit Migrationshintergrund.
Falk Osterloh: Coronapandemie: Das stille Leiden der Kinder und Jugendlichen
Der Kinder- und Jugendreport der DAK-Gesundheit hat gezeigt, dass die Coronapandemie das Krankheitsspektrum deutlich verschoben hat: „Angestiegen ist demnach vor allem die Zahl der Kinder, die infolge einer psychischen Erkrankung im Krankenhaus behandelt wurden: von 172,1 auf 182 je 100 000 Fälle nach dem ersten Shutdown sowie von 58,3 auf 62,7 je 100 000 Fälle im zweiten Shutdown.“
Prof. Dr. med. Eckard Hamelmann, Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin am Evangelischen Klinikum Bethel, Universitätsklinikum OWL der Universität Bielefeld, betont, dass es sich bei diesen Zahlen um die stationären Fälle handelt.
Die große Bugwelle, die wir noch erwarten, schlägt im ambulanten Bereich auf“, sagte er. Dabei gebe es eine große Gruppe an chronisch kranken Kindern, die während der Pandemie eine psychische Komorbidität entwickelt habe. „Wir sehen zum Beispiel in den Asthmaambulanzen und in den Diabetesambulanzen Kinder und Jugendliche, mit denen wir vor allem über Stress und Depressionen sprechen und weniger über ihre eigentliche Erkrankung. Die psychische Belastung dieser Kinder ist hier brutal zu merken.
Prof. Dr. med. Eckard Hamelmann
In den Praxen der Kinder- und Jugendärzte zeigt sich, dass infolge der Coronapandemie vor allem die psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen angestiegen sind. Der Präsident des bvkj, Dr. med. Thomas Fischbach, konstatiert:
Wir sehen dabei ein großes Spektrum: auffälliges Sozialverhalten, aggressives Verhalten insbesondere bei Jungs und internalisierendes Verhalten bei Mädchen bis hin zu emotionalen Anpassungsstörungen.
Dr. med. Thomas Fischbach (http://daebl.de/QY22)
Prof. Dr. med. Tobias Renner, ärztlicher Direktor der Abteilung für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter am Universitätsklinikum Tübingen, stellt fest, dass sich das Problem auch in der stationären Psychiatrie verfestigt und dass es bei einzelnen Krankheitsbildern einen erheblichen Anstieg gegeben habe
Auf die Frage, wie es nach der Coronapandemie weitergehen wird, antwortet Renner:
Wir gehen davon aus, dass die psychischen Folgen der Pandemie auch anhalten werden, nachdem die somatische Pandemie vorüber ist. Es ist aber schwer abzuschätzen, ob dies Monate oder Jahre dauern wird. Es wird darauf ankommen, wie wir die psychisch belasteten Kinder und Jugendlichen nach dem Ende der Coronapandemie im Blick behalten und als Gesellschaft die Bereitschaft haben, ihnen auch langfristig zu helfen.
Prof. Dr. med. Tobias Renner (http://daebl.de/ZL68)
3 Kommentare