Offener Brief einer Krankenschwester: „Wenn die Pflegekräfte bleiben sollen, dann setzt sie nicht noch mehr unter Druck!“

In den letzten paar Wochen lese ich in etlichen aktuellen Formaten von bekannten Sendern und Medien, dass die Pflegekräfte durch die Corona-Situation auf den Intensivstationen, völlig am bzw. über dem Limit sind.

Liebe Leserinnen und liebe Leser, das sind viele Pflegekräfte und zwar seit Jahrzehnten. So zu tun, als wäre die aktuelle Situation auf den Stationen etwas völlig Neues, ist schlichtweg falsch. Die oftmals unzumutbare Situation der Pflegenden – und das nicht nur auf den Intensivstationen – hat eine lange Geschichte und ist aus meiner Sicht, und ich spreche hier von meinen Erfahrungen/meinem Erleben, hausgemacht und zwar durch die (aktive) Unterlassung von Unterstützung, Fürsorge und Respekt für diese Berufsgruppe. 

Ich bin staatlich-examinierte Krankenschwester (tätig gewesen in den Bereichen Verbrennung, Chirurgie und Kardiochirurgie) und kann mich gut daran erinnern, dass es ein, vielleicht auch zwei Jahre vor der Gesundheitsreform im Jahr 1996 war: 

Meine Kollegen, Kolleginnen und ich wurden dazu angehalten, die Zeiten zu dokumentieren, welche wir für eine Ganzwaschung benötigten, für einen einfachen und auch für einen komplizierteren Verbandwechsel, für das Wechseln eines Katheters, für das Anziehen von Kompressionsstrümpfen, etc. Ich erinnere mich sehr genau daran, wie ich zu meiner Kollegin Inge sagte: „Irgendwie habe ich ein merkwürdiges Gefühl, das alles aufzuschreiben.“

Was würde mit diesen Informationen geschehen, wie würden sie benutzt? Die benötigte Zeit ist doch bei jedem Patienten unterschiedlich. Das muss doch jedem klar sein, weil jeder Patient anders auf die pflegerische Intervention reagiert. Ich hatte schließlich schon 15 Jahre Erfahrung. Inge und ich waren ausnahmsweise unterschiedlicher Meinung, was in dieser Angelegenheit tatsächlich ungünstig war, denn Inge eilte sich, um auf „gute“ Zeiten zu kommen und ich legte den Schwerpunkt darauf die Patienten – welche ich, wann immer möglich – mit einbezog, damit er bald wieder das Gefühl haben konnte: „Ich schaffe es. Ich schaffe es auch alleine.“

Ein paar Jahre später erhielten wir Listen mit vorgegebenen Zeiten, in der wir die Pflege verrichten sollten. Da war manches Mal guter Rat teuer. Denn was machen, wenn der Patient einfach nicht konnte oder aufgrund eines Durchgangssyndroms im Widerstand war? Schnell waren die vorgegebenen Zeiten gesprengt und nicht nur ich musste zusehen, wo ich sie wieder rausreißen konnte. 

Es folgten bundesweit viele Privatisierungen von Krankenhäusern. Ein Resultat dieser Umstrukturierungen war unter anderem, dass die Qualität von Pflegemitteln und Pflegehilfsmitteln einbrach. Wollte ich einen Handschuh zum Schutz anziehen, riss dieser; manches Mal auch der Zweite und es brauchte den dritten Handschuh, um arbeiten zu können. Aus der Not heraus, zogen wir eben zwei Paar Handschuhe an. Dies sparte jedoch weder Kosten, noch Zeit. Im Gegenteil (man denke nur an den ganzen Müll).

Dann kam der Anspruch an eine unsägliche Dokumentationspflicht. Nahezu alles musste aufgeschrieben werden: Die Planung, die Maßnahmen, die Reaktionen auf die Maßnahmen und leider viel zu selten, wie es den Patienten mit alldem ging. Ich habe mich immer gefragt: Für wen oder was schreiben wir das? Und welchen Nutzen hat das für den Patienten? Unfassbar viel Zeit benötigten wir, um all das, was wir taten, zu rechtfertigen. Denn es hieß: Nicht dokumentiert, nicht gemacht, nicht gezahlt! Genau, die Zahlen wurden und waren wichtig. Der Schwerpunkt hatte sich verändert und gleichzeitig wurde „Ganzheitliche Pflege“ und „der Patient soll keine Nummer sein“, postuliert. 

Das sogenannte Qualitätsmanagement wurde eingerichtet. Für die Zertifizierung musste alles „super“ sein. Die Tage zuvor wurden wir in den Ausnahmezustand versetzt, denn alles, wirklich alles musste für diese Begutachtungen hergerichtet werden. Allein dies war oft ein großer Aufwand; der Nutzen dieser Begutachtungen für den Patienten oder uns Pflegende/Beschäftigte sei mal dahin gestellt. Es ging um Konkurrenz oder besser gesagt um Wettbewerb. Merkwürdig, so kann man doch nicht an der Genesung „ziehen“. Ich wurde eines Besseren – auch persönlich – belehrt: Nach 3 Tagen folgte die Krankenhausentlassung, egal, wie die Kaiserschnittnaht aussah.

Ich dachte und denke es heute noch: Noch nie ist so viel über Qualität gesprochen worden und noch nie habe ich so wenig Zeit mit und am Patienten verbracht. Aus meiner Sicht, hat die tatsächliche Pflegequalität unter diesem Druck gelitten (die Folgen davon sehe und erlebe ich bei vielen Pflegenden im Rahmen meiner heutigen Arbeit).

Auf Intensivstationen gibt es tatsächlich viele Sterbesituationen. Das liegt in der Natur der Sache. Denn wer dort hinkommt, ist vital gefährdet, d.h. sein Leben ist in einer bedrohlichen Situation. Damals wie heute fragt kaum jemand danach, wie es den vielen jungen und auch älteren Pflegekräften mit diesen Erlebnissen geht. Und dann wundern sich die Verantwortlichen, dass Kündigungsschreiben eingereicht oder die Arbeitszeiten gekürzt werden und somit Personalmangel entsteht? 

Glauben sie mir, ich weiß wirklich wovon ich spreche, denn ich habe in vielen unterschiedlichen Häusern gearbeitet. Weil ich selbst erlebt habe, dass Pflegende allein gelassen werden und manch‘ eine Situation zu einer sekundären post-traumatischen Belastungsstörung führen kann, habe ich mich vor Jahren entschlossen, für meine Kollegen eine Pflegende zu sein. In meiner heutigen Rolle im Gesundheits- und Sozialwesen kann ich dazu beitragen, dass der Stress und die Belastungen besser bewältigt werden können. Dann und nur dann, wenn die Vorgesetzten dies als hilfreich und notwendig erkennen und es ermöglichen; was sie (bislang) vielerorts nicht tun. 

Und das ist aus meiner Sicht eine Katastrophe, denn was den Pflegekräften vor allem fehlt – und zwar heute mehr denn je – ist nicht nur eine angemessene Vergütung, sondern verlässliche Möglichkeiten zur Entlastung, zum Aufarbeiten all jener Extremsituationen, die sich tagein-tagaus in der Pflege darstellen. Als an jenem Sonntag im August 1988 die Ramstein-Katastrophe passierte, habe ich mit vielen meiner Kollegen und Kolleginnen tagelang durchgearbeitet. Wir haben zwischendurch (wenn es einfach nicht mehr ging) im Aufenthaltsraum auf einen Stuhl gesessen, die Strickjacke über den Schultern, die Beine auf den anderen Stuhl gelegt, und für kurze Momente „geschlafen“, bis das Drama überschaubarer war. Bis heute habe ich nicht vergessen, welchen Belastungen wir durch die Durchführung von Triagen ausgesetzt waren oder durch Materialien, die uns fehlten, um unsere Arbeit zu tun, was zu einem unfassbaren Stress führte. Ich war 21.

Der Unterschied ist heute, dass aufgrund der Corona-Pandemie und den Auswirkungen für das Gesundheitswesen auch die Öffentlichkeit mit dieser enormen Belastung konfrontiert wird. Die Idee hinter dieser Medienpräsenz ist hoffentlich, dass eine tatsächliche Unterstützung und Verbesserung der täglichen Arbeitssituation zeitnah umgesetzt wird. Vor allem, weil dieser Zustand nicht nur Wochen, sondern nun schon über zwanzig Monate anhält.

Daher appelliere ich an die Entscheidungsträger: Wenn also gewollt ist, dass Pflegekräfte bleiben bzw. dass Menschen diesen Beruf erlernen, dann setzt sie nicht noch mehr unter Druck (wie z.B. mit einem angekündigten Impfzwang), sondern sorgt gut für sie durch familienfreundliche Arbeitszeiten, durch Angebote, die dafür sorgen, dass diese Menschen mit den Anforderungen gut umzugehen lernen, anstatt dass sie daran zusammenbrechen (was ja meist still passiert) und gehen. 

Ich appelliere an die Verantwortlichen und bitte sie, sich an ihre Mitarbeiter zu wenden und ihnen zu zusagen: „Ich/Wir sorgen – mit allen Mitteln – sofort dafür, dass ein wertschätzender und respektvoller Umgang miteinander, 24 Stunden am Tag, von allen gelebt wird! Ohne Ausnahmen. Alles dazu Notwenige können sie erlernen; hier bei uns im Haus.“  Meine Bitte und damit Forderung ist, dass die stationären Einrichtungen – wie selbstverständlich – ihren Mitarbeitern Coaching und Supervision unkompliziert, zeitnah und verlässlich anbieten: Von den Pflegenden, Assistenzärzten und Oberärzten bis zu den Mitarbeitern der Verwaltung. Bitte denken sie ebenso an die Geschäftsleitung, die Chefärzte und an die Raumpfleger (die auch viel mitbekommen), an die Physiotherapeuten, und an alle, die in diesem Team am und für den Patienten tätig sind. 

Dass dies möglich ist und funktionieren kann, weiß ich – und ja, es ist Arbeit, es braucht Engagement und die Einsicht, dass dies hilfreich ist. Und ja, es kostet Geld, aber so viel müssen die Pflegenden und die im Gesundheitswesen Tätigen den Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft, in Konzernen und Krankenversicherungen einfach wert sein!

Liebe Kolleginnen und Kollegen, seid klar und direkt in dem, was Ihr sagen wollt und müsst. Und lasst nicht zu, dass Eure Situation dazu benutzt wird, um viel Wirbel und Luft zu machen und für sonst nichts. Toi, toi, toi – haltet zusammen!

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