Auf der Suche nach einer neuen Welt

Ein Gastbeitrag

Ein mir unbekannter Mann steigt in mein Auto. Wir fahren sofort weiter durch die regnerische Dunkelheit. Es ist kurz nach 19.30 Uhr und wir haben nicht viel Zeit mehr. „Könntest du auch einen Bekannten von mir abholen? Seine Mitfahrtgelegenheit hat in letzter Minute die Teilnahme abgesagt“, fragt Jerry neben mir, der freundliche Augen hat und Gemütlichkeit ausstrahlt. „Kein Thema, klar“, antworte ich. Wir fahren wieder ein Stückchen zurück und dann steigt Menno ein, ein blonder Anfang-Fünfziger.

Jetzt fahre ich mit zwei völlig Unbekannten durch eine Kleinstadt in den Niederlanden, wo ich seit etwa zwei Monaten bei meiner Familie untergebracht bin. Keinen Moment habe ich Angst, wir lernen uns schon im Auto schnell kennen. So wie das heutzutage eben läuft, Gleichgesinnte brauchen nicht viele Wörter für ein Basis-Vertrauen.

In diesem Fall sind wir sogar “Partners in Crime”, wir sind auf dem Weg zu einer unerlaubten Versammlung. Na ja, illegal, ist in der “Neuen Normal-Gesellschaft“, so wie die Demissioniere Regierung in die Niederlande das Leben mit den Maßnahmen nennt, fast alles was mit Menschengruppen und faktenbasiertem Informationsaustausch zu tun hat. Von daher bin auch ich eine potenzielle Terroristin, auf dem Weg zu einem Treffen, wo es um das Aufbauen einer Parallelgesellschaft geht. Es fühlt sich an wie in einer Jugendserie mitzuspielen, in der ich Teil einer Gang bin und nachts aus dem Elternhaus fliehe, um Mist zu bauen. Tatsache, ich komme grad von meinem Elternhaus… Aber das hier ist fucking real. Und für eine gute Sache.

Die Einladung für den heutigen Abend geht nur über Kontakte, per App wird im letzten Moment die Location gemeldet, „Handys bitte daheim lassen“. Ich habe mein Handy zwar mit, aber in eine Anti-Tracking-Hülle gesteckt, die ich vorher noch getestet habe. Meine Mitreisenden heute Abend sind beide Unternehmer mit eigenem Laden. Das niederländische Klischee bewahrheitet sich, Jerry hat ein Fahrradgeschäft und Menno betreibt einen Käseladen. Ich schmunzle innerlich.

Wir sind spät dran und kommen kurz nach der angekündigten Anfangszeit an. Ja, wo genau eigentlich? Es ist stockdunkel als wir parken und aussteigen. Wir sind auf einem Gelände und spazieren in Richtung Laternen. Hier sieht es aus wie auf dem früheren Holzmarkt in Berlin oder im alten Tacheles, wer sich noch daran erinnert. Ich sehe die Schatten von gebastelten Kunstobjekten, es stehen Wohnwagen herum, wir überqueren eine große Holzveranda, betreten den Innenbereich und landen in einem großen Wohnzimmer mit Kamin. Es gehört anscheinend einer Öko-Kommune, die seit Jahren hier lebt.

Auch der Raum erinnert mich an Berlin, die alternative freie Szene, Lebenskünstler und sonstige Freigeister. Habe ich etwa Fernweh? Nach meine Wahlheimat seit fast fünfzehn Jahren? Es ist eine Stadt, die es nur noch in meinen Erinnerungen gibt.

Ich schau mich nach einem Platz um, ich fühle mich willkommen. Es sitzen etwa 30 bis 40 weiteren Interessenten, auffällig viele Frauen, im Raum. Vorne ein weißer Bildschirm und ein Laptop. Aha, wir werden einen klassischen Vortrag bekommen. Der Vortrag geht kurz auf den Hintergrund der Pandemie ein und die Notwendigkeit für Kritiker, sich zu vernetzen und eine neue Gesellschaft aufzubauen.

Der Sprecher ist Teil der lokalen Parallelgesellschafts-Gruppe. Die neue Gesellschaft soll bottom up aufgebaut werden. Alle wichtigen Bereiche eines Menschenlebens wie z.B. Unterricht, Geld, Gesundheit, Nahrungsmittel und so weiter müssten in jeder Region/ Stadt/Kreis neu organisiert werden. Wen es anspricht, kann sich daran beteiligen und selbst seinen Schwerpunkt wählen. Wir Menschen gemeinsam. Schwarmintelligenz.

Es ist nichts groß Neues, andere Gruppen reden über Vergleichbares. Es klingt alles sehr logisch. Die Logik, die in der Außenwelt verschwunden ist, hält sich hier und in ähnlichen Gruppen auf. Praktisch, nachvollziehbar und meistens mit offenem Herz wird kommuniziert und zueinander gefunden. Wir alle sind die Zukunft. Es ist an uns, Beteiligung ist erwünscht, aber freiwillig. Vor allem friedlich.

Was ich an diesem Abend auch schätze, ist der gemeinsame Austausch nach den Vorträgen. Ohne Anfeindungen vom Gegenüber, ohne Angst, in eine eisige Atmosphäre zu geraten. Wiedererkennung, Bestätigung, oder ein lockeres „Ich sehe das etwas anders, aber verstehe was du meinst.“ Normaler menschlicher Austausch. Mitgefühl. Kreativität. Unternehmergeist. Viele Unternehmer und Selbständige sind im Saal, eine Frisörin, eine Masseurin, Coaches, einen IT- Spezialist, Mütter.

Und natürlich hört man hier die Geschichten, die sonst nirgendwo erzählt werden können, jedenfalls nicht ohne Abneigungen oder „selber schuld-Parolen“ der Zuhörer. So erzählte einer bei uns am Tisch, Adri, über einen Vorfall letzten Winter in der Sperrstunden-Phase der Pandemie. Diesmal keine Jugendserie, eher ein schlechter Krimi.

Adri half einem Freund aus, einem Cafébesitzer, der während des Lockdowns gezwungenermaßen auch einen Delivery-Service betrieb. An einem Abend, am Ende der Lieferungen, fanden sich alle Mitarbeiter im Café wieder und tranken zu viert noch einem Bier. Der Laden war zu, alles geschlossen, von außen nichts sichtbar. Gegen 22:15 Uhr, plötzlich lautes Schreien und Klopfen an allen drei Eingangstüren. Erst wollte der Cafébesitzer nicht aufmachen. Dann aber war es so laut und eine Tür war fast eingetreten, also öffnete er doch.

Zwölf (!) Männer kamen herein. Zwei vom Ordnungsamt, vier Polizisten und der Rest waren in schwarz gekleidete Typen, nicht erkennbar in welcher Funktion sie tätig waren. „Ihr habt auf! Ihr seit hier zusammen und nach der Sperrstunde!“, lautete das Verbrechen. Alles wurde durchsucht, wie eine Razzia gingen sie vor. Am Ende war natürlich nichts Verbotenes zu finden. Die Kollegen konnten Dokumente vorlegen, dass sie zuvor gearbeitet hatten und damit gab es eine Art Befreiung von der Sperrstunde. Ohne Entschuldigung ist die Zwölf-Mann-Truppe danach wieder abgezogen.

Das Allerschlimmste an dieser Geschichte ist, das man zwar schockiert ist über solch eine  unverhältnismäßige Machtdemonstration, ähnliches aber zumindest gehört oder auch selbst erlebt hat. Höchste Zeit für eine neue Welt, in Form einer neuen Gesellschaft, einer Parallelgesellschaft, einem neuen Miteinander.

Die Organisatoren des heutigen Abends beziehen sich auf ein Buch eines wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Visionärs. Eine fundierte Theorie zum Aufbau eines neuen Zusammenlebens. Die Veranstalter hier machen nicht „irgendwas“. Obwohl einer der Sprecher meinte: „Wir fangen einfach an, wir wissen es auch nicht genau, machen manchmal nur irgendwas.“ Diese Transparenz, diese Ehrlichkeit und Menschlichkeit sind es, die eine neue Gesellschaft braucht. Eine Gesellschaft, in der Fehler zum Lernen da sind, wir Schritt für Schritt gemeinsam bewusster werden, und keiner das Monopol auf die Wahrheit hat.

Der Weg dorthin könnte lang und stolprig werden, aber der heutige Abend ist ein guter Anfang.

*die im Text vorkommenden Namen sind aus Gründen der Privatsphäre abgeändert.

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