Ein Essay von Barbara de Mars
Vergeltung oder Vergebung? Beide Wörter unterscheiden sich nur in drei Buchstaben: „lt“ und „b“. Drei Themenkreise wohnen ihnen inne:
– die Beziehung von Individuen zueinander und zur Allgemeinheit;
– Normen, in welche die Beziehung mündet und aus denen sie wiederum resultiert;
– die Macht, die es benötigt, um das jeweilige Prinzip anzuwenden und durchzusetzen.
Die alttestamentarische Talionsformel „Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme“ (Ex 21,23-25) setzte eine Norm, die auf einer wichtigen Erkenntnis beruhte: der Mensch lernt – wenn überhaupt – nur durch eigene Erfahrung. Der Irrwege gibt es viele, nehmen wir zum Beispiel das Goldene Kalb (Ex 32,1–29), als von den verunsicherten Erdbewohnern die Beziehung zu einem leblosen, goldenen Abbild proklamiert wurde.
Die göttliche Vergeltung ließ nicht auf sich warten, auch wenn der Gott des Alten Testaments hin- und hergerissen war zwischen Härte und Milde, denn er wusste bereits: der Mensch ist störrisch, schwer erziehbar und wird leicht rückfällig. Doch das Alte Testament drängte auf Ordnung und Gott hatte die Macht, sie zu etablieren. Vor ihr waren alle gleich und der Einzelne nichts.
Dann kam Jesus und stellte die Dinge auf den Kopf:
Ihr habt gehört, dass den Alten gesagt ist: ,Auge um Auge, Zahn um Zahn‘. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.
Mt 5,38 f.
Für den Einzelnen war es nun möglich, einen Circulus Vitiosus aus Rache, Leid und Sanktionen bewusst zu durchbrechen. Es ging um freien Willen, Verantwortung und Würde. Der Einzelne konnte sein Schicksal in die Hand nehmen. Der Trick dabei war, dass das Vergeben ein Ungleichgewicht begründete, welches der Andere vergelten musste. Damit wurden zwei Kategorien gegeneinander ausgespielt: ‚Do ut des – wie du mir so ich dir, aber ich breche die Regeln und setze darauf, dass du künftig nach den meinen spielst.‘
Wie würde der Andere reagieren? Seien wir ehrlich: oft scherte er sich einen Dreck um Do ut des und Vergebung, sofern er die Macht dazu hatte. Aber die Alternative war in der Welt und die Beziehung zwischen den Akteuren gestärkt.
Damit ist im digitalen Zeitalter nun Schluss. In der Vergangenheit waren das Ich und der Andere, das Individuum und die Gesellschaft immer aufeinander bezogen. Aber nun sind wir auf dem Weg, die Beziehungen der Leute untereinander und zum Ganzen durch die verantwortungs- und beziehungsfreie Technik zu sprengen. Wer die Macht hat, die Maschine zu nutzen, zuckt auch über Normen lässig die Achsel, während die bezuglosen Individuen lediglich Verfügungsmasse der neuen, amorphen Gesellschaft sind. Wo irgend möglich, werden Beziehungen unter Individuen und zur Gesellschaft von der technokratischen Macht auf dem Weg ins virtuelle Nirwana gekappt. Man sieht es an Familien, Verbänden, Parteien und Kirchen.
Eine menschliche Beziehung zieht immer nach beiden Seiten, ist dialektisch und – siehe Jesus – lässt Raum für Unerwartetes. Demgegenüber will die technokratische Macht eine Ordnung etablieren, die alternativlos immer nur eine Antwort zulässt und in eine Richtung drängt. Algorithmen und Bots ziehen das Individuum über den Tisch.
Vor der Macht steht das Individuum wie Kafkas K. vor dem Schloss. Die Beziehung zum Nächsten und der Gesellschaft ist aufgekündigt. Normen zielen immer mehr auf kollektive Kontrolle. Der Einzelne ist wieder Nichts. Was also tun?
Die Beziehung ist der Schlüssel, den uns Macht und Technik rauben wollen. Doch um wahrhaft menschliche Beziehungen herzustellen, müssen wir zunächst vom digitalisierungswütigen System, den neuen, oft kollektivistischen Normen und dem Goldenen Kalb der technischen Machbarkeit ablassen und zu einem uns eigenen, menschlichen Maß zurückfinden.
Temet nosce (Erkenne dich selbst) ist deshalb der erste Schritt. Der Film „Die Matrix“ lässt grüßen.
Besinnung ist die Versenkung des Menschen in seine ureigenen Kräfte und Eigenschaften, sowie deren Anwendung in Bezug auf die Außenwelt. Frei nach Kant ist sie der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne technische Leitung zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung durch Technik und Algorithmen zu bedienen.
Soweit die Kant’sche Analogie. Nun liegt es an uns.
Barbara de Mars studierte in München Germanistik, Internationales Recht, Theaterwissenschaften und Medienmarketing, arbeitete dann bei Zeitungen, Zeitschriften und fürs Fernsehen. Seit fast zwanzig Jahren lebt sie im »goldenen Dreieck« der Toskana und schreibt für deutschsprachige und italienische Medien, veranstaltet Seminare.
„Besinnung ist die Versenkung des Menschen in seine ureigenen Kräfte und Eigenschaften, sowie deren Anwendung in Bezug auf die Außenwelt. Frei nach Kant ist sie der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne technische Leitung zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung durch Technik und Algorithmen zu bedienen.“
A Ho! ☺️😉
Sehr stark – Dankeschön! 🙏😁
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