Warum wir manches nicht verzeihen können: Über den Verlust des Vertrauens (Vergeltung oder Vergebung?)

Ein Essay von Rainer Hofbauer

Vertrauen ist ein kostbares Gut. Dies fällt uns zumeist dann auf, wenn es gebrochen wird und verloren geht. Ob durch Freunde, Partner, Verwandte, Arbeitskollegen, politische Entscheidungsträger oder ihren Erfüllungsgehilfen – der Verlust des Vertrauens resultiert nicht aus einer Lappalie, sondern aus der Verletzung grundlegender Werte menschlicher Interaktionen und Beziehungen. Solche Werte liegen zum Beispiel in Treue und Loyalität, in gegenseitiger Wertschätzung, Rücksichtnahme und Kooperation.

Die Zeit der Corona-Pandemie hat solchen Werten massiven Schaden zugefügt, der nicht nur gegenüber Mitbürgern, politischen Entscheidungsträgern und ihren Helfern, sondern möglicherweise sogar gegenüber dem gesamten politischen System entstanden ist. Wodurch jene Werte Schaden erlitten und viele Menschen das Vertrauen in die handelnden Akteure – als solche, die auf ihrer Seite stehen, d.h. mit ihnen statt gegen sie agieren –, verloren haben, ist gewiss verschieden. Vielleicht erkannten sie, dass die politischen Entscheidungsträger fahrlässig, verantwortungslos oder sogar heimtückisch vorgingen; die Umsetzung der Corona-Maßnahmen empathielos, wenn nicht sogar gewaltsam betrieben wurde; dass sie mehr wie Gegner, die es zu bekämpfen galt, denn als Verbündete, die „im gleichen Boot sitzen“, behandelt wurden; oder dass die Entscheidungsträger nicht durch Wahrheit und Aufrichtigkeit, sondern durch Täuschung und Manipulation versuchten, Zustimmung und Handlungsbereitschaft zu erhalten.

Ist das Vertrauen in Menschen verloren gegangen, dann ist eine weitere Interaktion mit ihnen, die auf gegenseitigem Einverständnis, auf wohlwollender Solidarität und Zusammenarbeit beruht, nicht mehr möglich, selbst wenn die Schuldigen für ihre Taten Buße tun. Denn ein Vertrauensbruch macht nicht einzelne Entscheidungen und Handlungen, sondern die Menschen, die sie tätigen, nicht mehr vertrauenswürdig.

Daran können auch Entschuldigungen, Reuebekenntnisse, Entschädigungen oder die Zusicherung „Es nie wieder zu tun“ und Besserung zu geloben, nichts ändern, weil der Vertrauensverlust auch kein Vertrauen mehr in die Aufrichtigkeit all ihrer „Vergebungszeremonien“ mit sich bringt. Wenn das Vertrauen verloren ist, dann gibt es auch kein Vertrauen mehr darauf, dass sie all dies ernst meinen und nicht nur deshalb fabrizieren, weil sie Absolution möchten, etwa um in ihren Entscheidungspositionen zu verbleiben oder keine großen Veränderungen betreiben zu müssen.

Ebenso wenig gibt es ein Vertrauen darauf, dass die Täter jene Werte in Zukunft nicht wieder verletzen. Als bloße Lippenbekenntnisse verpuffen sodann ihre Beteuerungen und Versprechungen, als bloße Schmerzlinderungen ihre Entschädigungen – manches lässt sich einfach nicht wieder gut machen.

Wie sollten die Geschädigten also den Schuldigen begegnen?

Sollten sie einen Akt der Vergebung bloß um des lieben Frieden willens vollziehen? Oder nur, um dem Prinzip „Vergebung“ gerecht zu werden, obwohl sie die Täter nicht mehr als vertrauenswürdige Menschen ansehen und damit nicht aus „vollem Herzen“ verzeihen (können)?

Wenn die Geschädigten ihnen aus solchen Beweggründen Amnestie erteilen, werden sie ihren eigenen Werten allerdings selbst untreu, weil sie damit signalisieren, dass sie den Tätern auch dann „verzeihen“, wenn diese jene verletzen und das Vertrauen in sie untergraben. Ein rein formaler Akt der Vergebung wäre also nicht nur sich selbst gegenüber unaufrichtig, sondern letztlich auch eine Art Freifahrtschein für massive Grenzverletzungen.

Es gibt schwerwiegendes Fehlverhalten, bei dem eine vollständige Versöhnung nicht möglich ist und weshalb Menschen es verwirkt haben, eine weitere Chance zu bekommen. Und dies trifft auf viele Akteure der Corona-Pandemie zu. Die Geschädigten müssen darauf aber nicht mit rachelüsterner Vergeltung antworten und selbst zu Tätern werden. Es reicht, wenn sie den Schuldigen, denen sie ohnehin nicht mehr vertrauen, jede weitere Gefolgschaft entziehen und deren Forderungen nicht mehr zu einem Bestandteil der eigenen Lebensführung machen.


Rainer Hofbauer ist Schriftsteller aus Wien. Er hat dort Psychologie sowie Philosophie und Neurowissenschaften in Magdeburg studiert. Über die moralische Bedeutung von Meinungen („Doxastische Ethik„) hat er zwei Sammelbände veröffentlicht. In Kürze erscheint sein Buch „Falsche Philosophen“.

2 Kommentare

  1. Vertrauen ist ja nicht null oder eins. Das ist eine Skala. Es startet einseitig mit ein wenig und steigt dann durch Handlungen der anderen Seite hoffentlich. So kann sich eine positive Rückkoppelung ergeben, die langsam Vertrauen aufbaut.

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