Die Bedeutung der Versammlungsfreiheit für den freiheitlichen Rechtsstaat

Lehren für eine Zeit nach der Corona-Krise • von Dr. André Kruschke

Dieser Aufsatz würdigt die in den vergangenen zwei Jahren verhängten Corona-Versammlungsverbote sowie sonstige von der Exekutive erlassene, die Versammlungsfreiheit einschränkende Maßnahmen und widmet sich der Frage, ob die Corona-Pandemie das Demokratie- und Freiheitsverständnis in der Bundesrepublik Deutschland verändert hat. Der Beitrag zeigt auf, dass das politische und juristische Handeln der letzten zwei Jahre nicht zum leitenden Prinzip in der Zukunft gemacht werden darf und fordert eine Rückbesinnung auf die besondere Bedeutung der Versammlungsfreiheit für einen freiheitlich verfassten Rechtsstaat.

Einleitung

Die seit mittlerweile über zwei Jahre andauernde Corona­politik hat die Bundesrepublik Deutschland einer jüngsten Veröffentlichung zufolge stärker verändert als die Wieder­vereinigung.1 Diese Einschätzung basiert auf der Erkenntnis, dass seit dem Bekanntwerden des Corona-Virus Anfang 2020 die Ausübung zahlreicher Grundrechte 2 in beispielloser Art und Weise eingeschränkt wurde und bei den hiervon betroffenen Bürgern zu vormals nicht vorstellbaren Umstel­lungen und Belastungen ihres öffentlichen und privaten Le­bens führte.

Nachdem aufgrund eines Bund-Länder-Beschlusses 3 im Feb­ruar 2022 die bestehenden Corona-Regeln weitreichend zu­rückgefahren werden sollen und insofern seit Langem wieder Hoffnung auf eine Rückkehr zur Normalität besteht4, soll dieser erfreuliche Umstand Anlass für den Beginn einer hof­fentlich umfangreichen juristischen Aufarbeitung der staatli­chen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie, vorliegend am Beispiel der Versammlungsfreiheit, geben.

In diesem Sinne stellt der nachfolgende Beitrag Inhalt und Bedeutung der Versammlungsfreiheit dar, würdigt die in den vergangenen zwei Jahren verhängten Corona-Versamm­lungsverbote sowie sonstige von der Exekutive erlassene, die Versammlungsfreiheit einschränkende Maßnahmen und widmet sich der Frage, ob die Corona-Pandemie das Demo­kratie- und Freiheitsverständnis in der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich verändert bzw. in eine bestimmte Richtung verschoben hat. Der Beitrag endet mit einem Fazit zu den bisher in Bezug auf die Versammlungsfreiheit getrof­fenen Corona-Maßnahmen und fordert eine Rückbesinnung auf die besondere Bedeutung dieses für einen freiheitlich ver­fassten Rechtsstaat wichtigen Freiheitsrechts.

II.  Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit

1. Inhalt und Bedeutung

Nach Art. 8 I GG haben alle Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Dieses als Versammlungsfreiheit bezeichnete Recht besitzt im Verfassungsgefüge einen besonderen Rang5 und ist „für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung konstituierend“.6 Zusätzlich zu dieser verfassungsrecht­lichen Grundentscheidung dient die Versammlungsfreiheit der „ungehinderten Persönlichkeitsentfaltung“7 und ermög­licht als „Ausdruck gemeinschaftlicher, auf Kommunikation angelegter Entfaltung“8 die Ausübung der gemeinsamen Meinungsbildung und -kundgabe.9 Das Recht des Bürgers,
sich zu versammeln und gemeinschaftlich seine Meinung kundzutun, kommt damit als „Mittel zur aktiven Teilnahme am politischen Prozess“10 die Bedeutung eines „grundlegen­den und unentbehrlichen Funktionselements“11 für die de­mokratische Staatsform zu.12 Demonstrativer Protest kann nach Auffassung des BVerfG insbesondere notwendig werden, „wenn die Repräsentati­vorgane mögliche Missstände und Fehlentwicklungen nicht oder nicht rechtzeitig erkennen oder aus Rücksichtnahme auf andere Interessen hinnehmen“.13 Als Abwehrrecht
kommt Art. 8 GG dabei „vor allem andersdenkenden Minderheiten zu Gute“14 und „verschafft auch denen Möglichkeiten zur Äußerung in einer größeren Öffentlich­keit, denen der direkte Zugang zu den Medien versperrt ist“.15

Für das repräsentative System hat die Versamm­lungsfreiheit daher eine stabilisierende Funktion, da „sie gestatte Unzufriedenheit, Unmut und Kritik öffentlich vor­ zubringen und abzuarbeiten, und „. als notwendige Bedin­gung eines politischen Frühwarnsystems (fungiere), das
Störpotenziale anzeige, Integrationsdefizite sichtbar und damit auch Kurskorrekturen der offiziellen Politik möglich mache“.16 Art. 8 GG stellt damit ein wesentliches Element
„demokratischer Offenheit“ 17 dar und gewährleistet „ein Stück ursprünglicher und ungebändigter unmittelbaren De­mokratie“.18

2. Schranken der Versammlungsfreiheit

Während Versammlungen in geschlossenen Räumen grund­sätzlich nur durch verfassungsimmanente Schranken be­grenzt werden können, können Versammlungen „ unter frei­em Himmel“ durch oder aufgrund eines Gesetzes einge­schränkt werden, Art. 8 II GG.19 Diese Differenzierung der
Einschränkungsmöglichkeiten zwischen Versammlungen „in geschlossenen Räumen“ und Versammlungen „ unter freiem Himmel“ wird faktisch relativiert, da der diesbezügliche Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers im Interesse einer effek­tiven Grundrechtsausübung durch die Wechselwirkungsleh­re20 stark begrenzt wird. Ähnlich wie das Grundrecht der Meinungsfreiheit entfaltet auch die Versammlungsfreiheit eine intensive Ausstrahlungswirkungen in die einfachgesetz­liche Rechtsordnung und erfordert eine verfassungskonfor­me Auslegung der begrenzenden Regelung21, wonach der
Gesetzgeber bei staatlichen Maßnahmen stets, dh. auch bei Versammlungen unter freiem Himmel „die in Art. 8 ( GG) verkörperte verfassungsrechtliche Grundentscheidung zu be­achten „22 hat.

3. Beachtung der Wechselwirkungslehre

Eine Grundrechtsbeschränkung nach Art. 8 II GG ist stets „im Lichte der grundlegenden Bedeutung des Art. 8 I GG auszulegen“23 und wird damit ihrerseits begrenzt.24 Sie ist
insofern „nur zum Schutz gleichgewichtiger anderer Rechts­güter unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhält­ nismäßigkeit“25 möglich. Konkret muss die einschränkende
Maßnahme einen legitimen Zweck verfolgen,26 muss zur Erreichung dieses Zwecks geeignet und erforderlich sein und es darf kein „milderes und angesichts der konkreten Sachlage angemessenes Mittel zur Abwehr der von der Ver­anstaltung unmittelbar ausgehenden Gefahren zur Ver­ fügung“27 stehen. Letztlich verlangt die Angemessenheit bzw. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne eine praktische Konkordanz zwischen den betroffenen Gütern, dh. die Schwere der Grundrechtsbeeinträchtigung darf in keinem Missverhältnis zum Gewicht der verfolgten Ziele stehen.28

Dabei erhält die Versammlungsfreiheit als „Strukturelement der freiheitlichen demokratischen Rechtsordnung nahelie­genderweise bei Krisen und Gefahrenlagen, deren Bewälti­gung und Bekämpfung mit weitgehenden Beschränkungen grundrechtlicher Freiheiten einhergehen“29 besondere Be­deutung.30

4. Zwischenfazit

Das in Art. 8 I GG verankerte Recht der Versammlungs­freiheit trägt dem Umstand Rechnung, dass der Mensch ein auf Gemeinschaft ausgerichtetes Wesen ist, welches nicht allein leben will, sondern die Gesellschaft mit seinesgleichen sucht.31 Das Menschenbild des Grundgesetzes ist  demnach „nicht das eines isolierten  souveränen Individuums“, son­dern ziele auf die „in der Gemeinschaft stehende und ihr vielfältig verpflichtete Persönlichkeit“ ab, welches „die Span­nung Individuum – Gesellschaft im Sinne der Gemeinschafts­bezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person ent­schieden“ habe.32 Nur in der Gemeinschaft mit anderen überwindet der Einzelne seine Isolation und formt in Ab­grenzung zu anderen seine Individualität33, weshalb die Ver­sammlungsfreiheit den in Art. 1 I GG enthaltenen  Men­schenwürdesatz konkretisiert, ihr damit „einen gewissen Menschenrechtskern“34 zukommt.

III.   Unzulässigkeit pauschaler Corona­ Versammlungsverbote

1. Verhängung eines bundesweiten Demonstrationsverbots

Zur Eindämmung  der Corona-Pandemie haben im Früh­jahr 2020 sämtliche Bundesländer sowie zahlreiche Städte und Gemeinden Rechtverordnungen bzw. Allgemeinver­fügungen erlassen, welche die Versammlungsfreiheit pau­schal verboten, weitgehend eingeschränkt oder unter einen Befreiungsvorbehalt gestellt haben. Diese primär auf § 32 S.1 iVm § 28 I IfSG, zum Teil ergänzend auf § 15 I VersG, gestützten Maßnahmen basierten auf der Annahme, dass – selbst kleine – Versammlungen aufgrund ihrer schwer vorhersehbaren Eigendynamik zu großen Versamm­lungen anwachsen könnten und das Infektionsgeschehen dadurch weiter ansteigen könnten. Auch wenn die Maß­ nahmen der Bundesländer, Städte und Gemeinden nicht identisch waren, sahen sie weitgehend übereinstimmend pauschale Versammlungsverbote bzw. derart umfassende Einschränkungen vor, die das Versammlungsrecht unter einseitiger Berufung auf den Infektionsschutz praktisch leerlaufen ließen.

2. Rechtliche Würdigung

a) Unzulässigkeit pauschaler Versammlungsverbote

Derart weitgehende und pauschale Verbote sind mit Art. 8 I GG  unvereinbar,  da  sie zur Eindämmung des Infektions­geschehens entweder bereits ungeeignet,35 jedenfalls aber unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig sind.36 Ver­bot und Auflösung einer Versammlung stellen die intensivs­ten Eingriffe in das Grundrecht dar, die nach ständiger Rechtsprechung jeweils an strenge Voraussetzungen gebun­den sind und nur ausgesprochen werden dürfen, wenn eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung abgewendet werden muss und dies zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter notwendig ist.37

Für das Vorliegen der „unmittelbaren“ Gefährdung bedarf es dabei einer konkreten Gefahrenprognose,38 die eine qualifizierte Gefahr voraussetzt, deren Eintritt unmittelbar bevorstehen muss. Verlangt wird eine konkrete Sachlage, die bei ungehindertem Geschehensablauf mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für die der Versammlungsfreiheit entgegenstehenden Rechtsgüter führt.39 Hierbei kommen
nur tatsächliche Umstände in Betracht, während Verdachtsmomente und Vermutungen für sich allein nicht ausreichen.40 Auch bloße Belästigungen Dritter, die sich aus der Gruppenbezogenheit der Grundrechtsausübung ergeben und sich ohne Nachteile für den Versammlungszweck nicht vermeiden lassen, sind für ein Verbot oder eine Auflösung nicht ausreichend. Selbst wenn aber unmittelbare Gefährdungen von Rechtsgütern zu befürchten sind, ist diesen primär durch Auflagen entgegenzuwirken. Die Untersagung einer Versammlung kommt als Ultima Ratio nur in Betracht, wenn die Beeinträchtigungen anders nicht verhindert werden können.41

Bei jedweder in das Grundrecht der Versammlungsfreiheit einschränkenden Maßnahme ist zudem die neuere verfassungsgerichtliche Rechtsprechung heranzuziehen, wonach „die Grundrechte nicht nur die Ausgestaltung des materiellen Rechts beeinflussen, sondern zugleich Maßstäbe für eine den Grundrechtsschutz effektuierende Organisations- und
Verfahrensgestaltung sowie für eine grundrechtsfreundliche Anwendung vorhandener Verfahrensvorschriften setzen“.42 In diesem Sinne dürfen Versammlungen nicht per se als
gefährlich angesehen und aufgrund einer rein abstrakten Gefährdungslage verboten werden,43 da mit dieser Sichtweise nicht nur die Notwendigkeit des hierfür erforderlichen Vorliegens einer konkreten Gefahr umgangen, sondern die Ausübung eines Grundrechts pauschal unmöglich gemacht würde.44

b) Unzulässigkeit von Verboten mit Erlaubnisfreiheit

Aus dem gleichen Grund sind auch Verbote mit Erlaubnisvorbehalt unzulässig, da sie das Verhältnis von Erlaubnisfreiheit und Beschränkungsmöglichkeit der Behörde in Verkennung verfassungsrechtlicher Grundsätze in ihr Gegenteil umkehren.45 Dass zahlreiche Gerichte46 im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes die Frage nach der offensichtlichen Rechtswidrigkeit derartiger Maßnahmen regelmäßig unter Berufung auf die Vielzahl an komplexen Rechtsfragen
gleichwohl offengelassen haben, da diese im Rahmen einer lediglich summarischen Prüfung nicht zu klären seien, erstaunt in hohem Maße und ist verfassungsrechtlich zu bedauern.47 Da durch die in Rede stehenden Rechtverordnungen bzw. Allgemeinverfügungen ferner nicht jede Versammlung verboten werden soll, sondern gezielt nur solche, die sich gegen die Corona-Schutzmaßnahmen richten, drängt sich zudem der Eindruck auf, dass die Maßnahmen weniger
gesundheitlichen, sondern vielmehr politischen Zwecke dienen.48 Der in der Öffentlichkeit zur Begründung von Corona-Demonstrationen oftmals vorgebrachte Gesundheitsschutz scheint damit nur vorgeschoben, wie auch die jüngsten, von der Politik durchweg befürworteten Demonstrationen gegen den Klimawandel bzw. den Ukraine-Krieg deutlich zeigen.49

3. Zwischenfazit

a) Zur pauschalen Einschränkung von Freiheitsrechten

Es verwundert in hohem Maße, dass ein „für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung konstituierendes“50 Freiheitsrecht, welches – jedenfalls bislang – als „grundlegendes und
unentbehrliches Funktionselements“51 für die demokratische Staatsform angesehen wurde, durch sämtliche Bundesländer pauschal suspendiert wurde. Einschränkungen der verfassungsrechtlich geschützten Versammlungsfreiheit dürfen in diesem Sinne nicht unter pauschaler Berufung auf den Gesundheitsschutz erfolgen, sondern müssen (gerade) auch in einer Corona-Pandemie immer die Umstände des konkreten Einzelfalls würdigen.52 Lediglich „pauschale Erwägungen, die jeder Versammlung entgegengehalten werden könnten,
würden dem durch den Normgeber eröffneten Entscheidungsspielraum, von dem die Verwaltung unter Berücksichtigung des Individualgrundrechts aus Art. 8 GG Gebrauch
zu machen hat, nicht gerecht“.53 Dass derartige für ein demokratisches Staatswesen unentbehrliche Erwägungen praktisch im gesamten Bundesgebiet außer Acht gelassen
und konstituierende Grundrechte durch die Exekutive weitgehend kritiklos ausgesetzt werden konnten, offenbart die besorgniserregende Erkenntnis, dass selbst grundlegende
freiheitliche Werte auch in gestandenen Demokratien offenbar keine gefestigte innerliche Überzeugung erfahren haben, sondern unter wiederholter Betonung auf übergeordnete Ziele weitgehend geräuschlos aufgegeben werden können. Die für ein demokratisches Gemeinwesen erforderliche Wehrhaftigkeit hat sich damit nicht bewährt.

Um die in der Bundesrepublik Deutschland beispiellosen Grundrechtseinschränkungen rechtfertigen zu können, wurde namentlich in der Anfangszeit der Corona-Krise verschiedentlich auf das Diktum des „Handels unter Unsicherheit“ zurückgegriffen. Da die Gefährlichkeit des Corona-Virus nicht abschließen beurteilt werden konnte, seien massive Grundrechtseinschränkungen nicht nur zulässig, sondern aufgrund des Schutzauftrags des Staates sogar geboten gewesen, die aufgrund der deswegen bestehenden Alternativlosigkeit auch weitgehend ohne strenge Einzelfall- oder Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Rechtfertigung der damit verbundenen Grundrechtseinschränkungen erlassen werden können. Auch ein solches Verständnis ist jedoch besorgniserregend und verfassungsrechtlich bedenklich:
So birgt zunächst ausnahmslos jede staatliche Maßnahme das Risiko, sich im Nachgang als falsch herauszustellen. Es macht vor diesem Hintergrund den Eindruck, dass sich Bundes- und Landesregierungen mit der auffällig oft herangezogenen Betonung auf die mit dem Corona-Virus verbundenen „Unsicherheit“ in vorauseilenden Selbstschutz vor der Verantwortung für die mit ihren Entscheidungen verbundenen Folgen entziehen wollen, da sie diese aufgrund der unklaren
Sachlage (vermeintlich) nicht vorhersehen konnten. Auch wenn ein temporär vorsichtiges Agieren in einer derartigen Gefahrenlage zwar grundsätzlich nachvollziehbar erscheinen mag, darf dies nicht zu flächendeckenden Grundrechtseinschränkungen auf Dauer führen, zumal langanhaltende Grundrechtseingriffe einer laufenden Rechtfertigungskontrolle unterliegen, deren Rechtfertigungsdruck mit fortschreitender Dauer zunimmt.54 Weil anzunehmen ist, dass
unsichere Ausgangslagen aufgrund der zunehmenden technischen und wissenschaftlichen Entwicklungen in Zukunft eher zunehmen dürften, könnte die Exekutive bei einem
solchen Verständnis die Grundrechtsausübung andernfalls immer weiter beschneiden. Da es letztlich die politischen Entscheidungsträger selbst sind, die den Grad der Unsicherheit der Ausgangslagen bestimmen,55 könnten sie auf diese Weise festlegen, ob und in welchem Umfang eine Ausübung von Grundrechten möglich ist56 – ein verfassungsrechtlich
unhaltbarer Zustand.

Wie unkritisch vor diesem Hintergrund zahlreiche Gerichte mit den unter diesen Umständen zustande gekommenen Maßnahmen umgegangen sind und selbst die widersinnigsten Grundrechtseinschränkungen akzeptiert haben,57 ist ebenso wenig verständlich wie die Tatsache, dass Städte auch zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie und in mittlerweile vollem Bewusstsein der Verfassungswidrigkeit solcher Maßnahmen gleichwohl noch derartige Allgemeinverfügungen erlassen.58 Offenbar hat man bislang leider wenig aus der Corona-Krise gelernt.

IV. Zulässigkeit von vorbeugenden Versammlungsverboten bzw. Auflagen wegen unterstellter Missachtung von Hygienekonzepten

1. Judikatur zu Corona-Versammlungsverboten wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung

a) Gefährdung von „Leib und Leben“

Da sich das Corona-Virus besonders leicht von Mensch zu Mensch überträgt, könne die Infektionsgefahr nach Ansicht der Rechtsprechung folglich nur durch eine strikte Minimierung der physischen Kontakte zwischen den Menschen eingedämmt werden, weshalb Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen als Rechtfertigung einer „systematischen Reduktion“59 des Versammlungsrechts dienen. Verschiedene Gerichte rechtfertigten die staatlich verhängten Corona-Maßnahmen daher mit der zum Teil äußerst pauschalen Feststellung, dass Versammlungsverbote „das hohe Infektionsrisiko, dass bei der Zusammenkunft von Menschen in
Bezug auf das Virus SARSCoV-2 derzeit geschaffen wird, reduziert“,60 wodurch der „Schutz von Leib und Leben von Menschen, mithin überragend wichtiger Rechtsgüter“61 bezweckt wird. Da „gegenüber den Gefahren für Leib und Leben … die Einschränkungen der persönlichen Freiheit weniger schwer (wiegen)“,62 habe die Versammlungsfreiheit zurückzustehen.

b) Gefährdung des „Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems“

Darüber hinaus berufen sich die Gerichte, oftmals ebenso abstrakt, auf die „Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems“.63 Da den Staat eine „grundrechtliche Schutzpflicht“64 treffe, seien die Versammlungsfreiheit beschränkende Maßnahmen zur Bekämpfung von Covid-19 damit nicht nur zulässig, sondern verfassungsrechtlich geboten.65 Bei der Wahrnehmung dieser Pflicht, sich schützend und fördernd vor das Leben des Einzelnen zu stellen sowie vor Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit zu schützen, komme dem Gesetzgeber ein weiter „Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum“ zu.66 Diesen weitgehenden Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum hat das BVerfG in einer jüngsten Entscheidung ausgebaut und festgestellt, dass der Staat „nicht darauf beschränkt (ist), den Schutz gesundheits- und lebensgefährdeter Menschen allein durch Beschränkungen ihrer eigenen Freiheit zu bewerkstelligen. Vielmehr darf der Staat Regelungen treffen, die auch den vermutlich gesünderen und weniger gefährdeten Menschen in gewissem Umfang Freiheitsbeschränkungen abverlangen, wenn gerade hierdurch auch den stärker gefährdeten Menschen, die sich ansonsten über längere Zeit vollständig aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückziehen müssten, ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Teilhabe und Freiheit gesichert werden kann“.67 Versammlungsverbote, Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen sowie sonstige Maßnahmen zur sozialen Isolation stehen damit also letzten Endes im Interesse der sich hiergegen zur Wehr setzenden Bürger.

c) Unfriedlichkeit von Corona-Versammlungen aufgrund einer falschen Gesinnung der Versammlungsteilnehmer

Die von Behörden ausgesprochene Versammlungsverbote wurden teilweise ferner damit begründet, dass aufgrund der Gesinnung der Versammlungsteilnehmer Rückschlüsse auf
deren Verhalten gezogen werden können. Dies wurde von verschiedenen Gerichten anstandslos gebilligt. So wurden die Veranstalter bzw. die Versammlungsteilnehmer dieser (untersagten) Demonstrationen in den Beschlussgründen offen als Teil der „Querdenker-Szene“ diffamiert oder als „Corona-Kritiker“ bezeichnet, der „gerade nicht zuverlässig die Gewähr bietet, auf die Einhaltung der infektionsschutzrechtlichen Anforderungen effektiv hinzuwirken“.68 Da diese „den Maßnahmen zum Infektionsschutz regelmäßig skeptisch gegenüber“ stünden und den Rückschluss zulasse, „dass ein überwiegender Teil der Teilnehmenden nicht geimpft ist“,69 bestünden zudem erhebliche Risiken für das Infektionsgeschehen, so dass unter Berücksichtigung dieser Sachlage eine Verbotsverfügung „ermessensfehlerfrei, insbesondere verhältnismäßig“70 sei.

2. Rechtliche Würdigung

a) Die Rechtsgüter Leib und Leben
aa) Schutz der Versammlungsteilnehmer vor sich selbst?

(1) Zur Bedeutung der Gefährlichkeit des Corona-Virus

Bei der Würdigung gerichtlicher Entscheidungen zu Corona-Maßnahmen fällt auf, dass sich die Gerichte oftmals stereotyp auf hohe Todeszahlen, steigende Inzidenzwerte oder schwere Krankheitsverläufe beziehen, ohne diese auch nur einer eigenen Würdigung zu unterziehen bzw. die für den Gesundheitsschutz angeführten Maßnahmen kritisch auf ihre Wirksamkeit zu hinterfragen.71 Auch wenn sich für den Autor als medizinischen Laien eine abschließende Würdigung verbietet, ist „das“ Corona-Virus in aller erste Linie für (hoch) betagte und Personen mit bestimmten Vorerkrankungen gefährlich. Insbesondere mit Blick auf die aktuell vorherrschende Omikron-Variante wurde deren Gefährlichkeit dahingehend relativiert, dass die Grippewelle 2017/18 ohne Impfpflichterwägungen, ohne 2G, ohne Maskenpflicht pro Tag mehr als doppelt so viele Todesopfer verursachte wie die aktuelle Corona-Welle.72 Für die Frage der Rechtmäßigkeit von Versammlungsverboten dürfte insbesondere auch von Gewicht sein, dass sich die Versammlungsteilnehmer unter individueller Abwägung der damit verbundenen Risiken eigenverantwortlich für die Teilnahme an der Versammlung entschieden haben. Insofern erstaunt es, welches Freiheitsverständnis die Rechtsprechung in einem die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen schützenden Gemeinwesens zugrunde gelegt wird, wenn Bürger als offenbar unmündig angesehen werden, für sich selbst richtige Entscheidungen zu treffen und der Auffassung ist, sich mittels Verbote schützend vor sie stellen zu müssen. Der pauschale Verweis auf die Schutzgüter „Leib und Leben“ kann in diesem Sinne nicht zu einer undifferenzierten Abwägung zum Nachteil aller anderen Grundrechte führen, weil der Staat angesichts der nicht zu vermeidenden, allgemeinen Gesundheitsgefahren im öffentlichen und privaten Leben andernfalls jedwede individuelle Entscheidung des einzelnen verbieten könnte – ein Zustand, der nicht nur unverhältnismäßig, sondern auch mit der in Art. 19 II GG verankerten Wesensgehalt der Grundrechte73 offenkundig nicht in Einklang zu bringen wäre.

(2) Zur Schutzpflicht des Staates gegenüber seinen Bürgern

Es entspricht dem traditionellen Verständnis, dass die – von einigen Gerichten74 zuletzt stark betonten – Schutzpflichten des Staates gegen den Willen den Betroffenen nur in extremen Ausnahmesituationen zulässig sind75 und es daher im Grundsatz dem Einzelnen obliegt, ob bzw. welchen gesundheitsschädigenden Maßnahmen er sich aussetzen will. Der mündige Staatsbürger darf unter Berufung auf die allgemeine Handlungsfreiheit etwa (lebensgefährliche) Risikosportarten nachgehen, sich extrem ungesund ernähren und Suchtmittel wie Tabak und Alkohol exzessiv konsumieren – und kann sich bei all diesem selbst schädigendem Verhalten sicher sein, im Krankheitsfall auf Kosten der Allgemeinheit behandelt zu werden. So sterben allein in Deutschland jedes Jahr mehr als 125000 Menschen an tabakbedingten Störungen und mehr als 20000 an alkoholbedingten Störungen76 und gleichwohl ist sowohl der Genuss von Alkohol und Tabak verfassungsrechtlich geschützt.77 Die jährlichen Zahlen der Opfer ungesunder Ernährung übertreffen die Corona-Toten damit um ein Vielfaches. All dem steht weder die Plicht einer „gesundheitsgemäßen Lebensführung“78 entgegen, noch führt dies zu einer staatlichen Schutzpflicht, konkretisiert als Schutz des einzelnen vor sich selbst, denn grundrechtliches Schutzgut ist – auch bei der staatlichen Schutzpflicht – gerade die Autonomie des Einzelnen.79 All diese Grundsätze scheinen seit der Corona-Krise offenbar keine Geltung mehr beanspruchen zu können.

b) Die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems
aa) Umgang der Zahlen des Robert-Koch-Instituts durch die Gerichte

Zahlreiche der die behördlichen Versammlungsverbote bestätigenden Gerichtsentscheidungen80 basieren auf einer umfassenden Bezugnahme auf die vom RKI veröffentlichten Inzidenzwerten und Risikoeinschätzungen, womit sich die Gerichte behördliche Einschätzungen im großen Umfang zu eigen machen. Diese äußerst pauschale und verkürzte Würdigung von Sachverhalten, bei der zentrale Rechtsfragen zudem oftmals zulasten der Grundrechtsträger unbeantwortet bleiben,81 wird weder der Komplexität des Themas noch der Grundrechtsrelevanz gerecht.82
Für die Beurteilung des gesundheitlichen Risikos wird in diesem Sinne schlicht „auf die vom RKI ermittelten Inzidenzwerte nach § 28 a III 4-12 IfSG vom Bundesgesetzgeber als maßgeblich vorgegeben“,83 die nach so vertretener Einschätzung von der Rechtsprechung ungeprüft zu übernehmen seien und Versammlungen gegen Corona-Maßnahmen basierend darauf untersagt werden können.84 Da nämlich „immer dann, wenn Menschen aufeinandertreffen und sich austauschen, … das Risiko einer Ansteckung besonders groß (ist)“,85 dient ein Versammlungsverbot immer auch „dem Schutz von Leben und Gesundheit und der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems“, vgl. § 28 a III 1 IfSG.

(1) Unzureichende Berücksichtigung der Rechtsschutzgarantie

Die weitgehend unreflektierte Übernahme behördlicher Einschätzungen ist vor dem Hintergrund der in Art. 19 IV GG verankerten Rechtsschutzgarantie, die in einem Rechtsstaat die zentrale Aufgabe hat, der „Selbstherrlichkeit der Exekutive“86 entgegenzuwirken und damit zu Recht als „Gravitationspunkt der deutschen Rechtsentwicklung“87 bezeichnet wird, höchst fraglich. Denn Aufgabe der Gerichte ist es, Einschätzungen von Verwaltungsbehörden – wie dem RKI88
– zu überprüfen, anstatt deren Wertung unreflektiert zur Grundlage ihrer eigenen Entscheidungen zu machen.89 Die umfassende Bezugnahme auf verwaltungsbehördliche Werturteile ist nicht zuletzt deshalb bedenklich, da sich die vom RKI getroffenen Aussagen, errechneten Zahlen und ermittelten Inhalte im Nachgang nicht selten als fragwürdig bzw.
unzutreffend herausgestellt haben. Erwähnt seien nur die erhobenen Zahlen zur Hospitalisierungsrate, etwa ob ein Patient „wegen“ oder „mit“ Corona im Krankenhaus ist90
oder den nachweislich falsch ermittelten Inzidenzwerten, bei denen alle Personen, deren Impfstatus unbekannt war, pauschal zu den Ungeimpften gezählt wurden. Aufgrund der leider – jedenfalls teilweise – unzuverlässigen Datenlage und der dogmatisch wenig überzeugenden Datenerhebung haben Gerichte ihre juristischen Entscheidungen daher nicht ungefragt unter Berufung auf verwaltungsbehördliche Einschätzungen zu treffen, sondern müssen deren Aussagen kritisch überprüfen und haben diese insbesondere in eine rechtliche Gesamtabwägung einfließen zu lassen.91

Die Wissenschaft darf in einem demokratischen Rechtsstaat keine höhere Deutungsmacht über das Leben der Bürger besitzen als das Verfassungsrecht. Weder „die“ Wissenschaft92 (sofern es hier überhaupt eine Einigkeit gibt) noch das RKI ist unfehlbar bzw. kann stets nur zutreffende und gesicherte Erkenntnisse liefern, was die vergangenen Monate zahlreich bewiesen haben. Darüber kann und sollte es in einer Demokratie auch nicht der Anspruch der Wissenschaft sein, der öffentlichen Gewalt derart verbindliche Vorgaben zu machen: Aufgabe der Wissenschaft ist die Veröffentlichung deskriptiver, nicht aber normativer Aussagen. Deshalb stellen wissenschaftliche Erkenntnisse keine unantastbare Wahrheit, sondern lediglich zu interpretierende Möglichkeiten dar, welche als Grundlage politischer Schlussfolgerungen dienen. In diesem Sinne hat eine politische Entscheidung selbstredend zwar auf einer fundierten Tatsachenbasis zu erfolgen und hat sich an wissenschaftlichen Erkenntnissen zu orientieren; dabei darf sie aber weder die Vielfalt der wissenschaftlichen Diskurse ignorieren noch sich auf vermeintliche Sachzwänge zurückziehen. Insbesondere ist „die“ Wissenschaft keine juristische oder moralische Instanz zum Erlass von Ge- oder Verboten und sonstigen Regeln, nach denen eine demokratisch verfasste Gesellschaft verbindlich zu leben hat.93 Selbst die unterstellte Notwendigkeit politischer Maßnahmen, wie namentlich die zahlreichen von einer früheren Bundeskanzlerin als „alternativlos“ gefassten Entscheidungen, beinhaltet niemals zwingend auch Legitimität derselben und sind daher stets kritisch zu hinterfragen.94

Zur Verhinderung autoritärer Herrschaftsformen95 erklärt das Grundgesetz nicht die Meinung der von der Regierung sorgfältig ausgewählten Experten für allein maßgeblich, sondern räumt den Bürgern unabdingbare Grundrechte ein, die einen freien und offenen Diskurs in Gemeinschaft mit Gleichgesinnten ermöglichen. Eben dieses Recht gewährt die in Art. 8 GG verankerte Versammlungsfreiheit. Sofern die Bürger den Ansichten dieser „Spezialisten“ also widersprechen und eine davon abweichende bzw. ablehnende Haltung einnehmen, weil sie der Überzeugung sind, dass die Politik bei ihren Entscheidungen wichtige Aspekte des menschlichen
Zusammenlebens außen vorlässt, darf sich diese Haltung in öffentlichen Protesten, Demonstrationen oder Spaziergängen niederschlagen, damit sie die Chance hat, Eingang in die
öffentliche Meinung zu finden. Sämtliche Bürger im Wege einer unreflektierten Übernahme medizinisch-wissenschaftlicher Zahlen aber dauerhaft in unterschiedliche Risikogruppen96 umzudeuten und Einzelne hiervon, zum Teil unter Rückgriff auf biopolitische Merkmale,97 an der Ausübung ihrer Grundrechte zu hindern, steht einem rechtsstaatlich verfassten Staat nicht zu.

Das BVerfG hat in ständiger Rechtsprechung den Grundsatz aufgestellt, dass soweit Beschränkungen der Versammlungsfreiheit mit dem Inhalt der die Versammlung betreffenden Meinungsäußerungen begründet werden, die besondere Gewährleistung der Meinungsfreiheit aus Art. 5 GG zu berücksichtigen ist. Da jedoch der Inhalt von Meinungsäußerungen, der im Rahmen des Art. 5 GG nicht unterbunden werden darf, auch nicht zur Rechtfertigung von Maßnahmen herangezogen werden kann, die das Grundrecht des Art. 8 GG beschränken,98 ist die gleichwohl vorgenommene, widerholte Bezugnahme auf die Gesinnung der Versammlungsteilnehmer verfassungsrechtlich nicht haltbar. Der Inhalt einer Meinung kann also nicht im Rahmen von Art. 5 GG unterbunden werden, wobei unerheblich ist, ob die Meinung „wertvoll“ oder „wertlos“, „richtig“ oder „falsch“, oder „emotional“ oder „rational“ begründet ist.99 Das Grundrecht der Versammlungsfreit und das der Meinungsfreiheit sind somit Rechte gerade auch zum Schutz von Minderheiten. Ihre Ausübung darf nicht allgemein und ohne eine tatbestandliche Eingrenzung, die mit dem jeweiligen Schutzzweck des Grundrechts übereinstimmt, unter den Vorbehalt gestellt werden, dass die geäußerten Meinungsinhalte herrschenden sozialen oder ethischen Auffassungen nicht widersprechen.100 Ermächtigungen zur Beschränkung grundrechtlicher Freiheiten knüpfen somit nicht an die Gesinnung, sondern an Gefahren für Rechtsgüter an, die aus konkreten Handlungen folgen.101

Wer persönliche Ansichten zur Begründung von Versammlungsverboten heranzieht, verkennt somit nicht nur die auf Meinungspluralismus ausgerichtete Funktion der Grundrechte als Freiheitsrechte, wonach eine kritische Grundhaltung der Versammlungsfreiheit immanent ist und nicht gegen sie verwendet werden kann.102 Zudem ignoriert ein solches Verständnis den Umstand, dass eine Demonstration – unabhängig davon, wogegen sie sich richtet – typischerweise Ausdruck eines defizitär geführten politischen Prozesses ist bzw. die Folge einer mit Mängeln behafteten, oftmals sehr einseitig geführten, medialen Debatte darstellt. Aus
diesem Grund sind auch die zahlreichen medienwirksam inszenierten Äußerungen führender Landes- und Bundespolitiker gegen Corona-Demonstrationen zu kritisieren.103 Insbesondere sind sie nicht nur verfassungsrechtlich bedenklich, sondern auch politisch ungeschickt, weil sie die Entschlossenheit der Versammlungsteilnehmer zur Durchführung dieser von führenden Politikern und Medien offensichtlich nicht gewollten Versammlungen im Zweifel nur verstärken.

Da jede Versammlung Ausdruck des Missfallens einer bestimmten politischen Entscheidung bzw. Maßnahme ist, auf den die Versammlungsteilnehmer mit ihrer Demonstration aufmerksam machen wollen, könnte letztlich jede Versammlung mit dem Argument verboten werden, dass sich aufgrund der kritischen Grundeinstellung der Veranstalter diese voraussichtlich nicht an die für sie geltenden Regeln halten würden – denn wenn die Versammlungsteilnehmer mit den
Regeln einverstanden wären, würden sie nicht dagegen demonstrieren. Würde man die bloße Absicht eines Veranstalters, gegen eine bestimmte Norm demonstrieren zu wollen, als ein Indiz ansehen, dass dieser diese nicht befolgt, würde das Demonstrationsrecht zur leeren Hülle verkommen: Jedes Verbot einer Demonstration könnte auf diese Weise mit dem
Argument begründet werden, dass sie als „Kritiker des Grundgesetzes“ „gerade nicht zuverlässig die Gewähr bieten, auf die Einhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung
effektiv hinzuwirken“. Das letztlich zeitgleich abgehaltene andere Demonstrationen,
wie etwa das offen rechtswidrige und Leib und Leben konkret gefährdende Blockieren der Berliner Stadtautobahn A100 aus Gründen des Umweltschutzes von führenden Politikern auf Verständnis treffen104 bzw. Demonstrationen gegen den Ukraine-Krieg mit mehreren Hunderttausend Teilnehmern von führenden Leitmedien als „eindrucksvoll“105 bzw. „Reifezeugnis“106 bezeichnet werden, zeigt zudem, dass die Kritik an Corona-Demonstrationen nur sehr eingeschränkt aus rein gesundheitlichen Gründen vorgetragen werden, sondern jedenfalls auch zur Bekämpfung missliebiger Gesinnungen erfolgt sind. Eine solches Verständnis verkennt jedoch grundlegend das Wesen der Versammlungsfreiheit.

V. Fazit

Zu Beginn der Corona-Pandemie formulierte der frühere Bundesgesundheitsminister Jens Spahn während einer Regierungsbefragung: „Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen“.107 Auch wenn diese – in zeitlicher Hinsicht leider viel zu optimistische – Aussage wohl in erster Linie auf die mit den Corona-Maßnahmen verbundenen gesellschaftlichen und sozialen Zumutungen gerichtet gewesen sein dürfte,108 lässt sie sich insbesondere auch auf das Verfassungsrecht beziehen, zumal praktisch sämtliche Corona-Maßnahmen, auch wenn sie derzeit (vorübergehend) aufgehoben wurden, nach
bisherigen Erfahrungen jederzeit wieder aktiviert werden können. Obige Ausführungen zeigen deutlich, dass das politische und juristische Handeln der letzten zwei Jahre nicht zum leitenden Prinzip in der Zukunft gemacht werden darf.109 Die systematische und dauerhafte Einschränkung von Grundrechten wird einem demokratisch verfassten Rechtsstaat nicht gerecht. Trotz oder gerade wegen der zunehmenden Gewöhnungseffekte an ein Leben mit einer nur bedingten Möglichkeit, seine Freiheitsrechte in Anspruch zu nehmen, muss sich die Exekutive und Judikative verstärkt darauf besinnen, dass sich nach geltendem Verfassungsrecht der
Bürger nicht für die Ausübung seiner Grundrechte, sondern der Staat für die Einschränkung derselben rechtfertigen muss.110 Auch eine ansteckende Viruserkrankung vermag
diesen Grundsatz nicht dauerhaft in sein Gegenteil zu verkehren, ohne einen massiven Vertrauensverlust der Bürger in den Staat und dessen freiheitlich-demokratische Verfasstheit
zu bewirken. Auch jenseits von Corona stellen sich führende Medien bereits heute die Frage, ob sich die dort gezeigten, bedenklichen Tendenzen auch auf andere, politisch nicht gewollte Meinungsinhalte fortsetzen werden.111 Sollte das in den letzten zwei Jahren wahrgenommene Vorgehen der öffentlichen Gewalt gegen Corona-Demonstrationen Schule machen und auch bei sonstigen Themen die Grundrechtsausübung nur Staatsbürgern mit politisch gewünschter Gesinnung nahegelegt wird, würde das Vertrauen in den Rechtsstaat weiter zurückgehen und die Spaltung der Gesellschaft vorangetrieben. Es bleibt zu hoffen, dass Staat und Gesellschaft den
verfassungsrechtlichen Ausnahmezustand der letzten zwei Jahre umfassend aufarbeiten und für die Zukunft hieraus die richtigen Lehren ziehen werden.

Dieser Aufsatz erschien zuerst in der „Neuen Zeitschrift für Verwaltungsrecht (in Zusammenarbeit mit der Neuen Juristischen Wochenschrift) am 15. Juli 2022.


Fußnoten:

1 So der Leitartikel in der WELT AM SONNTAG v. 20.2.2022, 28.

2 Zu den hiervon am meisten betroffenen Grundrechten dürften aufgrund der Einschränkungen in die Bewegungsfreiheit die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 II 2 GG, aufgrund der verhängten Ausgangssperren das Recht auf Freizügigkeit nach Art. 11 GG, aufgrund
der Betriebsuntersagungen das Recht der Berufsfreiheit nach Art. 12 GG, aufgrund der Schulschließungen das Recht auf Schulwesen nach Art. 7 GG, aufgrund der Zugangsbeschränkungen zu Kirchen die Glaubensfreiheit nach Art. 4 GG und aufgrund der zahlreichen Demonstrationsverboten nicht zuletzt die in diesem Beitrag thematisierte Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG zählen. Darüber hinaus sind zahlreiche Einzel- und Auswahlentscheidungen an dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 I GG zu messen.

3 https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/coronaregeln-und-einschrankungen-1734724.

4 Wobei diese Hoffnungen anhand jüngster Entwicklungen – wieder einmal – stark relativiert worden sind, da zahlreiche Bundesländer bereits planen, die beschlossenen Corona-Lockerungen „auszuhebeln“, vgl. https://www.welt.de/politik/deutschland/plus237715215/CoronaWie-Bundeslaender-schon-jetzt-planen-die-Lockerungen-auszuhebeln.html und der Virologe und Institutsdirektor der Berliner Charité Christian Drosten, auch in den kommenden Jahren (!) mit weiteren Corona-Maßnahmen rechnet, vgl. https://www.welt.de/politik/deutschland/article237724657/Christian-Drosten-rechnet-auch-in-den-kommendenJahren-mit-Corona-Massnahmen.html.

5 BVerfG NJW 1985, 2395 = NVwZ 1985, 898 Ls.; vgl. auch BVerfGE 104, 92 = NJW 2002, 1031 (1032): „Der besondere Schutz der Versammlungsfreiheit beruht auf ihrer Bedeutung für den Prozess öffentlicher Meinungsbildung in der freiheitlichen demokratischen Ordnung des Grundgesetzes.“.

6 BVerfG NVwZ 2020, 711 (712) = NJW 2020, 1505 Rn. 18; BVerfGE 128, 226 = NJW 2011, 1201 (1204) Rn. 63, jew. mwN.

7 BVerfG NJW 1985, 2395 (2396) = NVwZ 1985, 898 Ls.

8 BVerfG NJW 1985, 2395 (2396) = NVwZ 1985, 898 Ls.; BVerfGE 104, 92 = NJW 2002, 1031 (1032).

9 BVerfGE 84, 203 = NJW 1991, 2694 (2694) = NVwZ 1992, 54 Ls.

10 BVerfG NJW 1985, 2395 (2396) = NVwZ 1985, 898 Ls.; BVerfG NVwZ 2017, 555 Rn. 13.

11 BVerfG NJW 1985, 2395 (2397) = NVwZ 1985, 898 Ls.; BVerfG NJW 1993, 581 (582) = NStZ 1993, 190 = NVwZ 1993, 357 Ls.: „Die Versammlungsfreiheit besitzt … für die Persönlichkeitsentfaltung des einzelnen und für die demokratische Ordnung grundlegende Bedeutung“.

12 Dürig/Herzog/Scholz/Depenheuer, GG, 95. EL Juli 2021, Art. 8 Rn. 32.

13 BVerfG NJW 1985, 2395 (2397) = NVwZ 1985, 898 Ls.; vgl. auch BVerfGE 28, 191 (gek.) = NJW 1970, 1498 (1500): „Die Aufmerksamkeit und das Verantwortungsbewußtsein des Staatsbürgers, der Mißstände nicht nur zur Kenntnis nimmt, sondern sich auch für deren Abstellung einsetzt, ist eine wesentliche Voraussetzung für den Bestand der freiheitlichen demokratischen Ordnung“.

14 BVerfG NJW 1985, 2395 (2396) = NVwZ 1985, 898 Ls.

15 BVerfGE 104, 92 = NJW 2002, 1031 (1032).

16 BVerfG NJW 1985, 2395 (2397) = NVwZ 1985, 898 Ls.

17 BVerfG NJW 1985, 2395 (2397) = NVwZ 1985, 898 Ls.

18 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1999, Rn. 404, zit. von BVerfG NJW 1985, 2395 (2397); dies hat insbesondere auch deshalb eine zentrale Bedeutung, da andere Formen direkter Demokratie vom GG kaum vorgesehen sind, vgl. Jarass/Pieroth/Jarass, GG 16. Aufl. 2020, Art. 8 Rn. 1.

19 Vgl. zu den Anforderungen hierzu allgemein etwa Jarass/Pieroth/Jarass GG Art. 8 Rn. 18.

20 Vgl. hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht II, 1. Aufl. 2010, § 63 Rn. 55.

21 BeckOK, GG/Schneider, 49. Edition, Stand 15.11.2021, Art. 8 Rn. 31.

22 BVerfG NJW 1985, 2395 (2397) = NVwZ 1985, 898 Ls.

23 BVerfGE 128, 226 Rn. 85 = NJW 2011, 1201 (1204); BVerfG NJW
1993, 581 (581) = NStZ 1993, 190 = NVwZ 1993, 357 Ls.

24 Vgl. hierzu und zum folgenden Jarass/Pieroth/Jarass GG Art. 8 Rn. 19.

25 BVerfG NJW 1985, 2395 (2397) = NVwZ 1985, 898 Ls.; BVerfGE 128, 226 = NJW 2011, 1201 (1204) Rn. 85; BVerfG NVwZ 2020, 711 (712) Rn. 19 = NJW 2020, 1505.

26 BVerfGE 128, 226 Rn. 86 = NJW 2011, 1201 (1204).

27 BVerwG NVwZ 1988, 250 (250).

28 Vgl. hierzu konkret mit Blick auf das Corona-Virus Sinder NVwZ 2021, 103; VG Hamburg 16.4.2020 – 17 E 1648/20, BeckRS 2020, 9930 Rn. 21.

29 VG Hamburg 16.4.2020 – 17 E 1648/20, BeckRS 2020, 9930 Rn. 23.

30 Konkret mit Blick auf das Corona-Virus Eibenstein NVwZ 2020, 1811 (1813): „Gerade seit Ausbruch der Covid-Pandemie im März 2020 zeigt sich anschaulich, welchen besonders hohen Wert die Versammlungsfreiheit als Kommunikationsgrundrecht für die von den Maßnahmen betroffenen Bürger hat“.

31 Vgl. etwa E.-W. Böckenförde, Staat Nation, Europa, 1. Aufl. 1999, 211: „…die menschliche Existenz (ist) wesenhaft eine gemeinschaftsbezogene und -gebundene. Immer wieder bestätigt sich die alte Wahrheit, dass der Mensch wesenhaft ein animal sociale et politicum ist. Das Individualwohl ist nicht unabhängig von, sondern nur mit und zum Teil auch über das Gemeinwohl erreichbar.“.

32 BVerfGE 4, 7 = NJW 1954, 1235 = BeckRS 1954, 30700520; vgl. auch BVerfGE 45, 187 = NJW 1977, 1525 = BeckRS 9998, 105762, Nr.II. 1: „Dem liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistigsittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten. Diese Freiheit versteht das Grundgesetz nicht als diejenige eines isolierten und selbstherrlichen, sondern als die eines gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Individuums“.

33 Dürig/Herzog/Scholz/Depenheuer GG Art. 8 Rn. 1.

34 Kloepfer Verfassungsrecht II § 63 Rn. 3.

35 ZB wenn keinerlei Infektionsgefahr besteht, wie etwa bei Motorradoder Autokorsos.

36 BeckOK, GG/Schneider Art. 8 Rn. 56 a; Lisken/Denninger/Kießling, Hdb. d. Polizeirechts, 7. Aufl. 2021 Rn. 157; Kersten/Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 2. Aufl. 2021, Kapitel V, Nr. III, S. 118: „Der Verfassungsstaat hat überreagiert“; VG Hamburg 16.4. 2020 – 17 E 1648/20, BeckRS 2020, 9930.

37 BVerfG NJW 1993, 581 (582) = NStZ 1993, 190 = NVwZ 1993, 357 Ls.; BVerfG NJW 1985, 2395 = NVwZ 1985, 898 Ls.

38 BVerfGE 128, 226 = NJW 2011, 1201 (1207) Rn. 90.

39 BVerfG NVwZ 2008, 671 (672).

40 BVerfG NJW 1993, 581 (582) = NStZ 1993, 190 = NVwZ 1993, 357 Ls.; BVerfG NJW 1985, 2395 = NVwZ 1985, 898 Ls.

41 BVerfGE 128, 226 Rn. 90 = NJW 2011, 1201 (1207); BVerfG NJW 1985, 2395 (2398) = NVwZ 1985, 898 Ls.: „Verbot oder Auflösung setzen zum einen als Ultima Ratio voraus, dass das mildere Mittel der Auflagenerteilung ausgeschöpft ist“.

42 BVerfG NJW 1985, 2395 (2399) mwN = NVwZ 1985, 898 Ls.

43 Vgl. Dürig/Herzog/Scholz/Depenheuer GG Art. 8 Rn. 160: „Die Versammlungsfreiheit erfährt wie kaum ein anderes Grundrecht die konkrete Reichweite seiner Wirklichkeit im Einzelfall. Jede Einschränkung erfordert daher eine hinreichende Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls. Damit unvereinbar sind pauschale Erwägungen, die jeder Versammlung entgegengehalten werden können. Damit würden die Behörde dem durch den Gesetzgeber eröffneten Entscheidungsspielraum im konkreten Einzelfall im Ansatz nicht gerecht.“; vgl. auch
BVerfG NVwZ 2020, 711 (712) Rn. 24 = NJW 2020, 1505.

44 BVerfG NJW 1985, 2395 (2398) = NVwZ 1985, 898 Ls.: „Demgemäß bestimmt das Gesetz, dass es auf ‚erkennbaren Umständen‘ beruhen muss, also auf Tatsachen, Sachverhalten und sonstigen Einzelheiten; bloßer Verdacht oder Vermutungen können nicht ausreichen. Unter Berücksichtigung der grundlegenden Bedeutung der Versammlungsfreiheit darf die Behörde insbesondere bei Erlass eines vorbeugenden Verbotes keine zu geringen Anforderungen an die Gefahrenprognose stellen, zumal ihr bei irriger Einschätzung noch die Möglichkeit einer
späteren Auflösung verbleibt“.

45 VG Hamburg 16.4.2020 – 17 E 1648/20, BeckRS 2020, 9930 Rn. 24: „Das verfassungsrechtlich vorgegebene Regel-Ausnahme-Verhältnis von (Erlaubnis-)Freiheit und Beschränkung dieser Freiheit wird umgekehrt“; SaarlVerfGH NVwZ-RR 2020, 514 Rn. 49: „Ungeachtet der von der Verordnung nicht näher geregelten Frage, welche Mittel der Glaubhaftmachung zulässig, aber auch ausreichend sind, muss der Bürger die Wahrnehmung seiner elementaren Grundrechte jederzeit – vergleichbar einer Umkehr der Beweislast – gegenüber dem Staat rechtfertigen. Eine derartige Regelung ist nicht ohne Weiteres zumutbar…“; Lisken/Denninger/Kießling Hdb. d. Polizeirechts Rn. 157; EibensteinNVwZ 2020, 1811 (1813).

46 Vgl. jüngst VG Neustadt ad Weinstr. 3.1.2022 – S L 1276/21.NW, BeckRS 2022, 2; ferner BVerfG NVwZ 2020, 711 = NJW 2020, 1505 Rn. 24; VGH München 30.4.2020 – 10 CS 20.999, BeckRS 2020,
9460 Rn. 23; die offensichtliche Rechtswidrigkeit hingegen bejahend VG Hamburg 16.4.2020 – 17 E 1648/20, BeckRS 2020, 995 = BeckRS 2020, 9930, wobei der Beschluss in zweiter Instanz vom OVG Hamburg 16.4.2020 – 5 Bs 58/20, BeckRS 2020, 5951, aufgehoben wurde, wobei das OVG Hamburg die entscheidende Frage wegen Zeitmangels ebenfalls offenließ.

47 Vgl. hierzu zutreffend Kersten/Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 2. Aufl. 2021, Kapitel V, Nr. III, S. 123: „Schade: Freiheitsverlust wegen Zeitmangel“.

48 Vgl. etwa die klare Feststellung des VG Stuttgart 12.1.2022 – 1 K 80/ 22, BeckRS 2022, 168 Rn. 13: „Durch diese Ausführungen (der die Versammlung verbietenden Antragsgegnerin) wird auch für den juristischen Laien erkennbar, dass sich die Untersagung lediglich konkret gegen … Versammlungen und Aufzüge richtet, mit denen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen protestiert werden soll“.

49 Vgl. hierzu näher unter Nr. IV. 2 c) bb).

50 BVerfG NVwZ 2020, 711 (712) Rn. 18 = NJW 2020, 1505; BVerfGE 128, 226 Rn. 63 = NJW 2011, 1201 (1204), jew. mwN.

51 BVerfG NJW 1985, 2395 (2397) = NVwZ 1985, 898 Ls.; BVerfG NJW 1993, 581 (582) = NStZ 1993, 190 = NVwZ 1993, 357 Ls.

52 BVerwG NVwZ 2020, 709 (711) = LKV 2020, 167 = NJW 2020, 1426; BVerfG NVwZ 2020, 711 (712 f.) = NJW 2020, 1505; Sinder NVwZ 2021, 103 (107 f.).

53 BVerfG NVwZ 2020, 711 (712) Rn. 24 = NJW 2020, 1505.

54 Vgl. SaarlVerfGH NVwZ-RR 2020, 514 Rn. 30: „Je länger sie (scil.: die Grundrechtseinschränkungen) wirken, desto höher müssen die Anforderungen an ihre Rechtfertigung – und an ihre Kohärenz mit anderen Regelungen – sein. Maßnahmen, die in der Stunde der Not der – zu diesem Zeitpunkt nur über Bruchstücke wissenschaftlicher Erkenntnisse verfügen – Exekutive einen weiten Spielraum der Risikobeurteilung und der Einschätzung der Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen zuzugestehen erlauben, müssen mit dem Verstreichen der Zeit und damit der Tiefe der Grundrechtseingriffe einerseits, der Breite und Validität wissenschaftlicher Erkenntnisse jeweils neuen Maßstäben gerecht werden“.

55 Etwa in Form von Inzidenzwerten, Hospitalisierungsraten, etc.

56 So kann bspw. der Sieben-Tages-Inzidenzwert durch Erhöhung der Testfrequenz jederzeit willkürlich erreicht werden.

57 Wobei es vereinzelt auch positive Entscheidungen gab, vgl. etwa der
SaarlVerfGH NVwZ-RR 2020, 514, betreffend die im Saarland verhängte Ausgangsbeschränkung (Rn. 45): „Veranschaulichend gesagt: Es leuchtet nicht ein, dass sich Geschwister in gebührendem Abstand in einem Möbelmarkt oder Baumarkt treffen dürfen, nicht aber in der
eigenen Wohnung – was der gegenwärtigen Rechtslage entspricht“ bzw. (Rn. 48): „Schließlich ist unklar, warum ein triftiger Grund zum Verlassen der Wohnung zum Sport oder zur Bewegung im Freien angenommen wird, Menschen, die sich im Freien jedoch nicht bewegen, sondern in gebührendem Abstand von jedwedem Anderen – als Einzelner auf einer Bank in der Sonne – verharren wollen, ordnungswidrig oder gar strafbar handeln“.

58 Vgl. etwa die Allgemeinverfügung der Stadt Dresden v. 22.1.2022 zur Untersagung von Versammlungen „welche den gemeinschaftlichen Protest gegen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie (Hygienemaßnahmen, Impfungen, etc.) zum Gegenstand haben“, vgl. https://www.dresden.de/media/pdf/ordnungsamt/Allgemeinverfuegung_Versammlungsverbot_22.1.2022.pdf.

59 In diesem Sinne etwa der VGH München NJW 2021, 178 Rn. 30 ff.

60 VGH Mannheim 14.5.2020 – VGH 1 S 1078/20, BeckRS 2020, 5956 Rn. 9; ähnlich VGH München NJW 2021, 178 Rn. 30.

61 VGH Mannheim 14.5.2020 – VGH 1 S 1078/20, BeckRS 2020, 5956 Rn. 9.

62 So das BVerfG NJW 2020, 1429 Rn. 11 = COVuR 2020, 31 = NVwZ 2020, 708; vgl. auch VGH Mannheim 14.5.2020 – VGH 1 S 1078/20, BeckRS 2020, 5956 Rn. 14: „Die grundrechtlich geschützten Interessen des Antragstellers sind von großem Gewicht, aber nicht derart schwerwiegend, dass es unzumutbar erschiene, sie … zurückzustellen, um einen möglichst weitgehenden Gesundheits- und Lebensschutz zu ermöglichen, zu dem der Staat aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Art. 2 II GG prinzipiell auch verpflichtet
ist“.

63 VGH München NJW 2021, 178 Rn. 31.

64 Vgl. statt Vieler BVerfG NVwZ 2020, 1508 Rn. 16; OVG BerlinBrandenburg 5.3.2021 – OVG 11 S 17/21, BeckRS 2021, 3773 Rn. 29; OVG Bautzen NVwZ 2020, 1853 (1854) = NVwZ 2020, 1852; VG Berlin v. 30.7.2021 – 1 L 377/21, BeckRS 2021, 30808 Rn. 7.

65 OVG Berlin-Brandenburg 5.3.2021 – OVG 11 S 17/21, BeckRS 2021, 3773 Rn. 29 mwN.

66 OVG Berlin-Brandenburg 5.3.2021 – OVG 11 S 17/21, BeckRS 2021, 3773 Rn. 30 mwN.

67 BVerfG NVwZ 2020, 1823 Rn. 9 = NJW 2021, 619 Ls. = BeckRS 2020, 8418.

68 Vgl. etwa das VG Berlin 30.7.2021 – 1 L 377/21, BeckRS 2021, 30808 Rn. 12.

69 Vgl. jeweils VG Berlin 30.7.2021 – 1 L 377/21, BeckRS 2021, 30808 Rn. 9.

70 Vgl. VG Berlin 30.7.2021 – 1 L 377/21, BeckRS 2021, 30808 Rn. 12, wobei die folgende Aussage, wonach es dem Antragsteller und den Teilnehmenden dagegen freistünde „sich durch Plakate, Spruchbanner und ähnliches gegen Abstandsgebote und Maskenpflicht zu wenden“ sehr zynisch wirken, da ihnen die Versammlung ja gerade verboten wurde und derartige Maßnahmen für den Antragsteller und den Teilnehmern daher gerade für unzulässig erklärt wurden.

71 Wobei als äußert positives Gegenbeispiel etwa die Entscheidung des SaarlVerfGH NVwZ-RR 2020, 514 zu nennen ist, welches in Rn. 43 ausführt: „Der damit (dh durch den Verlust des Grundrechts, d. Verfasser) erzielte Gewinn ist nicht nachvollziehbar dargelegt. Absolute Zahlen einer Zunahme von Infektionen mit dem Sars-Cov2-Virus belegen nichts außer der Zunahme selbst. Sie sind … aussageleer. Steigt die Zahl der Infizierten, kann dies auf vielerlei Gründen beruhen: Die Zahl der Infizierten und Kranken wird von den Gesundheitsbehörden derzeit in kein Verhältnis zur Zahl der Getesteten und Nichtgetesteten gesetzt. Die Zahl der Verstorbenen lässt nicht erkennen, ob Menschen an der Virusinfektion oder gelegentlich der Virusinfektion verstorben sind“.

72 Weshalb der Bundestagsvizeprädient Wolfgang Kubicki (FDP) konsequenterweise die sofortige Aufhebung sämtlicher Corona-Maßnahmen fordert, vgl. https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus236785519/Corona-Pandemie-Wir-muessen-die-Angstspirale-durchbrechen.html.

73 Vgl. hierzu Dürig/Herzog/Scholz/Remmert GG Art. 19 Rn. 18: „Art. 19 II ordnet durch die Aufstellung einer äußersten, nicht zur Disposition stehenden inhaltlichen Grenze einen gewissen Vorrang der Grundrechtsbindung der Staatsgewalt vor den dieser zugleich und ebenfalls mit Verfassungsrang eingeräumten Einwirkungsmöglichkeiten auf die Grundrechte an, sichert die Grundrechte auf diese Weise in ihrem faktischen Bestand und bewahrt sie damit vor inhaltlicher ‚Aushöhlung‘ bzw. vor ihrem ‚Leerlaufen‘“.

74 Vgl. nur BVerfG NVwZ 2020, 1508 Rn. 16; OVG Berlin-Brandenburg 5.3.2021 – OVG 11 S 17/21, BeckRS 2021, 3773 Rn. 29; OVG Bautzen NVwZ 2020, 1853 (1854) = NVwZ 2020, 1852; VG Berlin 30.7. 2021 – 1 L 377/21, BeckRS 2021, 30808 Rn. 7.

75 Jarass/Pieroth/Jarass, GG, 16. Aufl. 2020, Art. 2 Rn. 100: „Eine Verpflichtung des Staates, den Einzelnen vor sich selbst zu schützen, kann nur in Sonderfällen bestehen“; in diesem Sinne hat das BVerfG etwa die Gurtanlegepflicht für Kraftfahrzeuginsassen, BVerfG NJW 1987, 180, oder die Schutzhelmpflicht für Kraftradfahrer (BVerfGE 59, 275 = NJW 1982, 1276) für zulässig erachtet.

76 Vgl. die WELT v. 11.2.2022, S. 4.

77 Vgl. BVerwGE 86, 349 = NJW 1991, 1317 = NVwZ 1991, 579 Ls. (zum Genuss von Alkohol) bzw. BGH BGHZ 79, 111 = NJW 1981, 569 (zum Genuss von Tabak).

78 Das in Art. 2 II GG verankerte Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit schließt vielmehr „die Freiheit zur Krankheit“ ein, vgl. Jarass/Pieroth/Jarass, GG, 16. Aufl. 2020, Art. 2 Rn. 101 a.

79 Kloepfer Verfassungsrecht II § 57 Rn. 11 mwN.

80 VG Berlin 30.7.2021 – 1 L 377/21, BeckRS 2021, 30808 Rn. 8 ff.; VGH München 16.4.2021 – 10 CS 21.1113, BeckRS 2021, 9416; OVG Berlin-Brandenburg 5.3.2021 – OVG 11 S 17/21, BeckRS 2021, 3773; VGH Mannheim 15.4.2020 – VGH 1 S 1078/20, BeckRS 2020, 5956; VGH München NJW 2021, 178 Rn. 47.

81 Vgl. auch die kritische Anmerkung von Berwanger zur Ablehnung eines Eilantrags gegen das Verbot einer Dauermahnwache in Berlin durch das BVerfG NVwZ 2020, 1508 (1512) : „Im allgemeinen Interesse der Rechtsfortbildung stünde es dem BVerfG im Übrigen gut zu Gesicht, wenn es ungeklärte Rechtsfragen auch einmal beantworten würde“.

82 Wobei es durchaus auch positive, eine sehr differenzierende Betrachtungsweis einnehmende Gerichtsentscheidungen gibt, vgl. SaarlVerfGH NVwZ-RR 2020, 514; VG Hamburg 14.4.2020 – 17 E 1648/20, BeckRS 2020, 9930; VG Stuttgart 12.1.2022 – 1 K 80/22, BeckRS 2022, 168.

83 VG Berlin 30.7.2021 – 1 L 377/21, BeckRS 2021, 30808 Rn. 9.

84 So auch das OVG Berlin-Brandenburg 5.3.2021 – OVG 11 S 17/21, BeckRS 2021, 3773 Rn. 41 ff., wonach gegen die Heranziehung dieser Werte jedenfalls bei der in einem Eilverfahren nur möglichen summarischen Prüfung keine durchgreifenden Bedenken bestehen; ebenso auf die Zahlen des RKI verweisend VGH Mannheim 15.4.2020 – VGH 1 S 1078/20, BeckRS 2020, 5956 Rn. 12.

85 Vgl. VGH München NJW 2021, 178 (180) Rn. 31.

86 BVerfGE 10, 264 = NJW 1960, 331 (331) = NJW 1960, 667 Ls.: „Die Bedeutung des Art. 19 IV GG liegt vornehmlich darin, dass er die „Selbstherrlichkeit” der vollziehenden Gewalt im Verhältnis zum Bürger beseitigt; kein Akt der Exekutive, der in Rechte des Bürgers eingreift, kann richterlicher Nachprüfung entzogen werden“; BVerfG 19.6.1973 – 1 BvL 39/69 und 14/72 BVerfGE 35, 263 = NJW 1973, 1491 (1493) = NJW 1973, 2196 Ls.: „Das Verfahrensgrundrecht des Art. 19 IV GG garantiert nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes; der Bürger hat einen substanziellen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle. Die Bedeutung der grundgesetzlichen Gewährleistung liegt vornehmlich darin, die ‚Selbstherrlichkeit‘ der vollziehenden Gewalt im Verhältnis zum Bürger zu beseitigen“; BVerfGE 51, 268 = NJW 1980, 35 (36).

87 Dürig/Herzog/Scholz/Schmidt-Aßmann GG Art. 19 IV Rn. 1.

88 Das Robert Koch-Institut (RKI) ist ein Bundesinstitut im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit, vgl. https://www.rki.de/DE/Content/Institut/institut_node.html.

89 Vgl. zu dieser herausgehobenen Bedeutung der judikativen Gewalt in der Gewaltenteilung auch Kloepfer Verfassungsrecht I § 10 Rn. 59.

90 Vgl. hierzu etwa die Kritik des Virologen und Epidemiologen Klaus Stöhr in der JUNGEN FREIHEIT Nr. 12/22 v. 18.3.2022, 6: „Es gibt jetzt gute Daten von einzelnen Krankenhäusern, wonach knapp 90 Prozent der Corona-PCR-Positivgetesteten Zufallsbefunde sind. Das wird bei den Todesfällen in denselben Größenordnungen liegen.“; folgendes Beispiel mag die Tragweite dieser Differenzierung veranschaulichen: So wird seit Jahren bei etwa 30% der in der Bundesrepublik Deutschland verstorbenen Personen Fußpilz nachgewiesen, wobei medizinisch unstreitig sein dürfte, dass diese Menschen nicht „wegen“, sondern „mit“ dieser Krankheit gestorben sind. Weshalb eine derartige Differenzierung in Bezug auf das Corona-Virus nach wie vor nicht vorgenommen wird, obwohl sie grundlegende Bedeutung nicht nur für die Einschätzung der Gefahrenlage, sondern auch auf die Ausübung der Grundrechte, hat, lässt sich weder medizinisch noch juristisch erklären.

91 Umfänglich zuzustimmen ist daher der treffenden Anmerkung von Kießling zur Entscheidung des VGH München NJW 2021, 178 (183) bezüglich der von diesem Gericht als unproblematisch verhältnismäßig erachteten nächtlichen Ausgangssperre: „Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit des VGH ist jedoch voller Widersprüche und Oberflächlichkeiten. … Eine Rechtfertigung nächtlicher Ausgangssperren müsste darlegen, inwiefern es strengerer Regelung für die Nacht bedarf. Dies kann schon nicht gelingen, denn das Virus überträgt sich nachts nicht
anders als tagsüber. … Auch die Prüfung der Angemessenheit gerät schief: So soll der Grundrechtseingriff weniger intensiv sein, weil ‚die meisten Menschen‘ den streitigen Zeitraum ‚in den Wintermonaten ohnehin in ihrer Wohnung verbringen‘. Dieses Argument entzieht jedoch eigentlich dem ganzen Konzept der nächtlichen Ausgangssperre die Grundlage: Denn es zeigt nur, dass diese Maßnahmen von vornherein nicht Zusätzliches (im Vergleich zu den tagsüber geltenden Beschränkungen) zur Epidemiebekämpfung beitragen – wenn die Menschen ihre Wohnung sowieso nicht verließen, müsste man ihnen das Verlassen auch nicht verbieten. Da es aber tatsächlich Personen gibt, die erst nach 21 Uhr joggen gehen, könnte man sogar überlegen, ob nicht ein nächtliches Verbot solcher und ähnlicher Verhaltensweisen eine Verlagerung dieser Verhaltensweisen auf die Tagstunden bewirkt, die dann wiederum zu vermehrten Kontakten führt. … Es bleibt zu hoffen, dass die Gerichte anderer Bundesländer die nächtlichen Ausgangssperren strenger überprüfen“.

92 Wobei aufgrund der öffentlichen Berichterstattung gerade im Zusammenhang mit dem Corona-Virus der Eindruck entsteht, als bestünde „die“ Wissenschaft ausschließlich aus der Naturwissenschaft, namentlich der Biologie und speziell der Virologie – sämtliche Erkenntnisse der Soziologie, Psychologie, Rechtswissenschaft oder Philosophie scheinen hierbei als völlig unmaßgeblich außen vor zu bleiben.

93 Die Aussage des Weltärztepräsidenten und bekennenden Narzissten
Frank Ulrich Montgomery, der Richter wegen Urteilen zu CoronaMaßnahmen mit den Worten scharf kritisiert hat „Ich stoße mich daran, dass kleine Richterlein sich hinstellen und wie gerade in Niedersachsen 2G im Einzelhandel kippen, weil sie es nicht für verhältnismäßig halten“ lässt daher nicht nur eine unangemessene Überheblichkeit, sondern auch eine tiefe Ablehnung für eine demokratische Werteordnung erkennen; dass sich ein „Gericht an (maße), etwas, das sich wissenschaftliche und politische Gremien mühsam abgerungen hätten mit Verweis auf die Verhältnismäßigkeit zu verwerfen“, gilt es entgegen Herrn Montgomery in einer Demokratie nicht zu verurteilen, sondern zu respektieren. Vgl. hierzu https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/montgomery-kritisiert-kleine-richterlein-fuer-corona-urteile,SsiNuUx.

94 Vgl. Max Weber aus dem Aufsatz „Die Wissenschaft als Beruf“: „Alle Naturwissenschaften geben uns Antwort auf die Frage: Was sollen wir tun, wenn wir das Leben technisch beherrschen wollen? Ob wir es aber technisch beherrschen sollen und wollen, und ob das letztlich eigentlich Sinn hat: das lassen sie ganz dahingestellt oder setzen es für ihre Zwecke voraus“.

95 In diesem Zusammenhang oft als „Technokratie“ bezeichnet, wobei mit Technokratie hier eine Regierungsform zu verstehen ist, in der Experten und Wissenschaftler anstelle der demokratisch gewählten Politiker die eigentlichen Entscheidungen treffen, so dass im Ergebnis keine Herrschaft des Volkes, sondern eine Herrschaft der Sachverständigen entsteht.

96 Etwa in „Corona-Leugner“ vs. „Corona-Warner”.

97 Wie zB „geimpft“ vs. „ungeimpft“.

98 BVerfGK 13, 82 = NVwZ 2008, 671 (672); BVerfGE 90, 241 = NJW 1994, 1779 = NVwZ 1994, 892 Ls.; BVerfGE 111, 147 = NJW 2004, 2814 = NVwZ 2004, 1483 Ls.

99 Vgl. BVerfGE 61, 1 = NJW 1983, 1415 (1415): „Jeder soll frei sagen können, was er denkt, auch wenn er keine nachprüfbaren Gründe für sein Urteil angibt oder angeben kann“

100 BVerfGE 111, 147 = NJW 2004, 2814 (2815) = NVwZ 2004, 1483 Ls.

101 BVerfGE 25, 44 = NJW 1969, 738 (740); BVerfGE 111, 147 = NJW 2004, 2814 (2815) = NVwZ 2004, 1483 Ls.; BVerfGK 9, 245 = NJOZ 2007, 2939 = BeckRS 2006, 26059.

102 Eine solche Sichtweise widerspricht zudem dem Grundzug der Verfassung als „streitbare Demokratie”, vgl. BVerfGE 25, 44 = NJW 1969, 738 (740).

103 Vgl. etwa die Aussagen von Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobel „Anständige Bürger beteiligen sich nicht an verbotenen Demonstrationen“ oder von dem amtierenden Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier „Der Spaziergang hat seine Unschuld verloren“, die jeweils zum Ausdruck bringen, dass „anständige“ bzw. „unschuldige“ Bürger sich nicht an Corona-Demonstrationen beteiligen; noch deutlicher werden der amtierende Bundeskanzler Olaf Scholz, wonach es bei Corona „keine roten Linien geben darf“ und die grüne Bundestagsabgeordnete Saskia Weishaupt, die sogar „Schlagstöcke und Pfefferspray“ gegen Corona-Demonstranten einsetzten will. Übertroffen werden derart politisch ungeschickte und verfassungsrechtlich fragwürdige Meinungskundgaben nur noch von der amtierenden Bundesinnenministerin Nancy Faeser, die auf Twitter den Standpunkt vertrat: „Man kann seine Meinung auch kundtun, ohne sich gleichzeitig an vielen Orten zu versammeln“, diesen im Nachgang verteidigte und damit offen das Grundrecht der Versammlungsfreiheit – jedenfalls gegen Corona-Maßnahmen – in Frage stellte (vgl. hierzu auch die kritische Stellungnahme von Professor Diringer in der WELT AM SONNTAG v. 27.3.2022, 28 („Verfassungsministerin in der Kritik“)).

104 Vgl. die Bundesumweltministerin Steffi Lemke: „Es ist absolut legitim, für seine Anliegen zu demonstrieren und dabei auch Formen des zivilen Ungehorsams zu nutzen“.

105 https://www.welt.de/regionales/hamburg/article237276171/Grossdemonstration-in-Hamburg-Putin-verpiss-dich-wir-sind-hier.html.

106 https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/ukraine-demonstrationenein-reifezeugnis-der-deutschen-17838404.html.

107 https://www.zeit.de/2020/54/verzeihen-entschuldigung-2020-zitate-politiker.

108 Vgl. hierzu der Beststeller-Autor Gunnar Kaiser in Der Kult, 2022, 282: „Aushalten soll das achtjährige Kind, dass jeden Schultag sechs bis acht Stunden eine Maske tragen muss, ‚aushalten‘ soll es, dass es regelmäßig der Beschämung, der Angst vor Isolation ausgesetzt wird, weil es sich testen lassen muss, ‚aushalten‘ sollen die Alten, dass man ihre letzten Lebensjahre so unwürdig gestaltet, dass sie ihre Liebsten nicht mehr sehen und umarmen dürfen, ‚aushalten‘ soll der Bürger, dass er in einem Staat lebt, der immer tiefer in sein Privatleben hineinspioniert und seine
Bewegungsprofile zur Kontaktverfolgung nutzt – was anderes steht ihm nicht zu“.

109 Vgl. auch das besorgniserregende Fazit von Siegel NVwZ 2020, 577 (583): „Durch die Corona-Krise werden die Grundsätze und Maßstäbe des Verwaltungsrechts in vielen Bereichen erheblich modifiziert“.

110 Vgl. hierzu SaarlVerfGH NVwZ-RR 2020, 514 Rn. 49: „Ungeachtet der von der Verordnung nicht näher geregelten Frage, welche Mittel der Glaubhaftmachung zulässig, aber auch ausreichend sind, muss der Bürger die Wahrnehmung seiner elementaren Grundrechte jederzeit – vergleichbar einer Umkehr der Beweislast – gegenüber dem Staat rechtfertigen. Eine derartige Regelung ist nicht ohne Weiteres zumutbar …“.

111 Konkret werden diesbezüglich Meinungskundgaben etwa gegen die „Ökodiktatur“, gegen das Gendern, gegen massive Preissteigerungen oder gegen das autoritäre Russland angesprochen, vgl. die WELT AM SONNTAG v. 6.2.2022, 11.

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